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„Die Forderung, nicht politisch zu sein, ist politisch“

Tut sich Wissenschaft einen Gefallen damit, dem Ideal der Wertfreiheit zu entsprechen? Amrei Bahr ruft dazu auf, sich für Demokratie und Verfassung einzusetzen. Im Interview erklärt sie, an welchen Punkten sie die Wissenschaftsfreiheit in Deutschland in Gefahr sieht – und was prekäre Arbeitsverhältnisse damit zu tun haben.

Frau Bahr, was bedeutet Wissenschaftsfreiheit für Sie?

Amrei Bahr ist Juniorprofessorin für Philosophie der Technik und Information an der Universität Stuttgart. Sie engagiert sich in der Wissenschaftskommunikation und hat gemeinsam mit PD Dr. Kristin Eichhorn und Dr. Sebastian Kubon die Initiativen #IchBinHanna und #LauteWissenschaft ins Leben gerufen. Foto: privat

Wissenschaftsfreiheit ist die Basis unserer Arbeit, weil sie uns als grundgesetzlich verbrieftes Recht erlaubt, Themen, Methoden und Inhalte frei zu wählen und darüber frei ins Gespräch zu kommen. Sie soll Interventionen von außen verhindern, mit denen der Versuch unternommen wird, aus wissenschaftsfremden Gründen auf Wissenschaft Einfluss zu nehmen.

Inwiefern könnte es sein, dass die Art und Weise, wie die Wissenschaft in Deutschland organisiert ist, darauf positiv oder negativ Einfluss nimmt?

In Deutschland gibt es zwei Gründe, weshalb wir uns um Wissenschaftsfreiheit Sorgen machen müssen. Der erste Grund trat eindrücklich in der so genannten Fördergeld-Affäre zutage. Hier stand zumindest der Verdacht im Raum, dass Fördergelder auch aufgrund von politischen Einstellungen vergeben oder entzogen werden könnten. Ich halte das für ein symptomatisches Problem für die Förderung von Forschung über Drittmittel, weil die grundsätzlich eine Steuerungsmöglichkeit eröffnet, die man bei einer in die Breite gestreuten Grundfinanzierung nicht hat. Drittmittel-Förderung ermöglicht es, thematisch Schwerpunkte zu setzen oder sich aufgrund von anderen Kriterien auszusuchen, wen man fördert – und das kann problematisch sein.

Und der zweite Grund?

Der zweite Grund, aus dem ich glaube, dass wir uns in Deutschland Sorgen um die Wissenschaftsfreiheit machen müssen, ist, dass die Arbeitsverhältnisse der meisten Wissenschaftler*innen prekär sind. Sie sitzen in der Regel auf befristeten Arbeitsverträgen, die sich, zum Teil mit Lücken, aneinanderreihen. Für die meisten ist nach zwölf Jahren Schluss, da greift die Höchstbefristungsdauer des Wissenschaftszeitvertragsgesetzes (WissZeitVG). Dann müssen sie die Wissenschaft verlassen, was dazu führt, dass man einiges unternimmt, um die minimale Chance zu erhalten oder gar zu vergrößern, dass man im Wissenschaftsbetrieb bleibt. Das führt wiederum dazu, dass man sich manches nicht traut. Etwa, dass man manche Dinge wissenschaftlicher oder politischer Art nicht sagt, weil man Angst hat, dass einem das später zum Nachteil wird. Die Anpassung führt dazu, dass Wissenschaftler*innen nicht in der Weise frei sind, wie es eigentlich wünschenswert wäre.

Woher wissen Sie das? Stützen Sie sich auf Daten oder auf Erfahrungswerte Ihres Netzwerkes? Was ist Ihre Evidenzgrundlage?

„Wir können exemplarisch beobachten, was diese Kultur der Angst anrichtet, wenn wir uns die Diskussion um die Demonstrationen gegen Rechtsextremismus Anfang dieses Jahres ansehen.“ Amrei Bahr
Zu der Zurückhaltung, was inhaltliche Kritik betrifft, gibt es tatsächlich Daten aus der alternativen Evaluation des WissZeitVG, die unter anderem das Netzwerk für gute Arbeit in der Wissenschaft gemacht hat. Darin kann man nachlesen, dass befristete Leute sich mit inhaltlicher Kritik eher zurückhalten. Das geschieht in der Regel aus Sorge, dass sich die negativ auf die Karriere auswirken könnte.

Wir können exemplarisch beobachten, was diese Kultur der Angst anrichtet, wenn wir uns die Diskussion um die Demonstrationen gegen Rechtsextremismus Anfang dieses Jahres ansehen. In den Sozialen Medien kam häufig die Frage, ob man als Wissenschaftler*in eine solche Demonstration besuchen und sich öffentlich äußern dürfe. Wohlgemerkt ging es dabei nicht darum, sich zu einer einzelnen Partei, sondern zur Demokratie zu bekennen, die die Basis unserer Arbeit darstellt. Insofern finde ich es bestürzend, dass sich viele Kolleg*innen, sowohl in den sogenannten früheren und mittleren Karrierestufen als auch Verbeamtete, gefragt haben, ob man öffentlich Stellung beziehen dürfe.

Zu der Sache mit der Forschungsförderung würde ich denken, dass die Fördergeld-Affäre nur die Spitze des Eisbergs ist. Daran sieht man mindestens eines: dass Forschungsförderung über Drittmittel die Möglichkeit eröffnet, politisch zu steuern. Man kann sich fragen, inwieweit das geschieht. Das sollte man auch erheben. Es ist aber schwierig, Personen zu finden, die bereit sind, darüber Auskunft zu geben. Nichtsdestotrotz sollte uns das allein Sorgen bereiten, insbesondere in einer politischen Situation, in der eine Partei, die sicherlich der Wissenschaft gegenüber nicht wohlgesonnen ist, bei zwei Landtagswahlen zweitstärkste Kraft war – in Thüringen, wo sie als gesichert rechtsextrem gilt, sogar die stärkste. In einer solchen Situation sollten wir alles unternehmen, um demokratische Strukturen zu schützen. Wenn aus ihnen selbst heraus, aus einem Bundesministerium, etwas so Wichtiges wie das Recht auf Wissenschaftsfreiheit attackiert wird, dann ist das aus meiner Sicht ein großer Grund zur Sorge.

Das heißt, das Neutralitätsgebot interpretieren Sie im Sinne von: „Die freiheitlich-demokratische Grundordnung ist etwas, wofür wir einzustehen haben“?

„Auch wenn ich nichts sage, mich enthalte, ist das politisch. Man kann in dieser Situation nicht anders, als sich zu positionieren.“ Amrei Bahr
Ich denke, man muss sehen, dass Begriffe wie Neutralität und Wertfreiheit ihrerseits politisch sind. Die Forderung, nicht politisch zu sein, ist politisch. Ich glaube, dass wir uns als Wissenschaft keinen Gefallen damit tun, wenn wir versuchen, diesem Ideal des Nicht-Politischen, Wertfreien zu entsprechen. Auch wenn ich nichts sage, mich enthalte, ist das politisch. Man kann in dieser Situation nicht anders, als sich zu positionieren. Das sollte ich dann auch offenlegen, anstatt zu versuchen, es Leuten recht zu machen, die ihrerseits häufig mit der Forderung nach Wertfreiheit und politischer Neutralität eine politische Agenda verfolgen und denen wir damit in die Karten spielen.

Wenn Forschende auf Demonstrationen gegen Demokratiefeinde gehen, wie sie im Frühjahr in großer Zahl stattfanden, und zu den Redner*innen gehören Parteienvertreter*innen, haben manche Kolleg*innen Sorge, das Neutralitätsgebot zu verletzten – und gehen nicht hin. Wie positionieren Sie sich dazu?

Mein Eindruck zu den Demonstrationen ist, dass im demokratischen Spektrum parteiübergreifend ein Konsens besteht, dass unsere Demokratie ein schützenswertes Gut ist. Das begrüße ich sehr. Ich glaube, es ist auch als Forscher*in wichtig, das nach außen zu kommunizieren. Auf den Demos waren sehr unterschiedliche Menschen, aber alle waren sich darin einig, dass man die Demokratie bewahren muss. Wissenschaftler*innen haben auch andere Rollen. Sie sind zugleich Bürger*innen und können als solche natürlich auch einer Partei beitreten und sich dort engagieren. Die interessantere Frage ist, inwiefern sich Wissenschaftler*innen in ihrer Rolle als solche politisch positionieren sollten. Diese Frage stellt sich sowohl für die Forschung als auch für die Lehre. Weil Demokratie und Verfassung Grundlage unserer Arbeit sind, scheint es mir geboten, dass wir uns für sie stark machen, soweit es uns möglich ist.

Als Wissenschaftlerin, die sich seit einigen Jahren einer gewissen Öffentlichkeit erfreut, habe ich festgestellt, dass das ohne Gegenwind praktisch nicht möglich ist. Das kann auch bedrohlich sein. Daher ist es wichtig, dass Institutionen reflektieren, wie sie ihre Wissenschaftler*innen schützen können. Denn es ist ein großes Problem, wenn sowas zur Privatangelegenheit gemacht wird. Teilweise gibt es Strukturen, auf die man zurückgreifen kann, etwa den SciCom-Support, aber ich glaube, in diesen Bereich muss man weiterhin investieren.

Wenn Sie „wir“ sagen – meinen Sie Forschende oder auch Forschungsinstitutionen? Wie politisch kann die Wissenschaft als Institution sein?

Wir haben #LauteWissenschaft im Zuge der Demonstrationen Anfang des Jahres ins Leben gerufen, weil wir beobachtet haben, dass ganz verschiedene Institutionen Haltung gezeigt haben: juristische, aus dem Sport, der Wirtschaft, aus allen möglichen Bereichen. Die Wissenschaft hat lange geschwiegen. Das liegt natürlich auch an zähen internen Prozessen. Ich glaube trotzdem, dass wir als Wissenschaft eine Verantwortung tragen, nicht zuletzt, weil wir eine unabhängige Stimme im gesamtgesellschaftlichen System sind und weil wir bestimmte Dinge mit unseren disziplinären Perspektiven einordnen können. Dabei haben auch die Geistes- und Sozialwissenschaften einen wichtigen Anteil, weil sie gesellschaftliche Prozesse analysieren und normative Fragen aufwerfen können: „Wie wollen wir zusammenleben?“, „Was sind gute Lebens- und Arbeitsbedingungen?“. Umso wichtiger ist es, dass wir das Wort ergreifen. Wir haben das Privileg, dass uns Leute zuhören, wenn wir öffentlich sprechen. Ich halte es für sehr wichtig, dieses Privileg zu nutzen.

Würden Sie sich als aktivistische Wissenschaftlerin bezeichnen?

„Wir haben das Privileg, dass uns Leute zuhören, wenn wir öffentlich sprechen. Ich halte es für sehr wichtig, dieses Privileg zu nutzen.“ Amrei Bahr
Ich würde mich als Wissenschaftlerin bezeichnen, die zu verschiedenen (wissenschafts)politischen Themen eine Haltung einnimmt. Ich habe nichts gegen das Label der Aktivistin, auch wenn das mitunter genutzt wird, um Leute zu diskreditieren. Das finde ich nicht überzeugend. Neulich habe ich mit Studierenden in einem Seminar diskutiert, was Aktivismus ist. Eine Definition, die sagt, es ist ein politisches Engagement jenseits etablierter politischer Strukturen, finde ich schon plausibel. Auf mich und meine Kolleg*innen Kristin Eichhorn und Sebastian Kubon trifft das ganz gut zu. Wir sind nicht gewählt und haben kein Amt inne. Wir vertreten auch keine bestimmte Institution, sondern haben uns verschiedener Themenbereiche angenommen und engagieren uns, um in diesen Bereichen etwas zu verbessern. Das kann man Aktivismus nennen. Ich würde es auch als Wissenschaftspolitik bezeichnen, da wir mittlerweile in etablierte Strukturen eingeladen werden, um unsere Argumente vorzubringen. In jedem Fall ist mir wichtig, dass ich eine Wissenschaftlerin sein möchte, die eine politische Haltung hat und diese auch nach außen trägt.

Kann man als engagierte Wissenschaftlerin frei forschen? Sehr direkt gefragt: Bekommt man eine Professur, wenn man Aktivistin ist?

Letzteres ist eine berechtigte Frage. Im Moment habe ich eine Professur mit Ablaufdatum – nach sechs Jahren ist Schluss. Für mich steht auch in Frage, ob die Wissenschaft weiterhin eine attraktive Arbeitgeberin für mich ist. Zur Themensetzung: Ich habe mich nie von der Trendsetzung beeinflussen lassen, in dem Sinne, dass ich manche strategischen Entscheidungen nicht getroffen habe. Zum Beispiel, eine Habilitation zu einem historisch-philosophischen Thema zu beginnen.

Warum haben Ihnen das viele Leute geraten?

Die Idee ist, dass man damit auf Professurausschreibungen eine gute Passung hat. Hier ist es oft schwierig, die Waage zwischen formalen Vorgaben und inhaltlichem Forschungsinteresse zu halten.

Wie würde ein Wissenschaftssystem in Deutschland aussehen, das in Bezug auf Freiheit und Verantwortung mehr Möglichkeiten bietet? Insbesondere im Hinblick auf „early career researchers“?

Ein solches Wissenschaftssystem müsste die massiven Abhängigkeitsverhältnisse, die wir jetzt haben, loswerden. Die sind in vielerlei Hinsicht problematisch, nicht zuletzt, weil sie Machtmissbrauch und wissenschaftliches Fehlverhalten möglich machen. Es gibt Ansatzpunkte: Man kann etwa die Zahl der Befristungen runterschrauben, insbesondere was die Postdoc-Phase angeht. Die Leute sind fertig qualifiziert, sie haben eine Promotion hinter sich und in der Regel zwei berufsqualifizierende Abschlüsse – man muss sie nicht mehr befristen.

Das Deutsche Zentrum für Hochschul- und Wissenschaftsforschung (DZHW) hat kürzlich eine Studie zur Redefreiheit an deutschen Hochschulen veröffentlicht.  Besorgt Sie die stille Entscheidung mancher Kolleg*innen – es sind nicht viele, aber es gibt sie –, bestimmte Themen in Forschung, Lehre und Wissenschaftskommunikation nicht anzusprechen, weil sie Gesichtsverlust befürchten?

Ich finde wichtig zu betonen, dass Wissenschaftsfreiheit nicht die Freiheit ist, alles unwidersprochen äußern zu dürfen, was man äußern möchte. Es ist mit Widerspruch zu rechnen und es gibt die offene Frage, für wen wir die Türen von Wissenschaftsinstitutionen öffnen, um sich zu äußern. Wenn Leute sagen, „Wir finden Demokratie verzichtbar“ oder „Wir wollen die Freiheitlich-demokratische Grundordnung auflösen“, dann halte ich es für keine gute Idee, diesen Leuten ein Podium zu bieten. In dem Moment, in dem wir das tun, normalisieren wir solche Positionen. Ich glaube, dass wir als Wissenschaft sagen müssen, dass wir das nicht wollen. Es gibt einfach Positionen, die wir nicht durch Diskussion aufwerten sollten.

Ein Buch zu diesem Thema hat viel Resonanz gefunden: „Wissenschaftsfreiheit und Moral“ von Tim Henning, der argumentiert, dass man keine moralistische Kritik an Wissenschaft üben sollte. Stattdessen legt er dar, dass das Vertreten bestimmter wissenschaftlicher Thesen sehr hohe Kosten für bestimmte Gruppen habe und man daher auch aus erkenntnistheoretischen Gründen besonders vorsichtig damit sein solle. Mir ist allerdings nicht klar, warum nicht auch in der Wissenschaft moralische Gesichtspunkte eine Rolle spielen sollten. Wenn jemand menschenfeindliche Thesen vertritt, dann muss ich mich als Wissenschaft(skommunikator*in) fragen, ob ich diesen Thesen Raum geben und damit indirekt vermitteln möchte, sie seien diskussionswürdig. Eine Strategie der Neuen Rechten ist es, die Grenzen des Sagbaren zu verschieben. Da sollten wir nicht mitmachen.

Braucht es bei Forschenden und Institutionen mehr Kompetenz? Müssen wir neu lernen, uns für die Demokratie einzusetzen? War es lange zu selbstverständlich?

Ja, ich glaube, es war lange zu selbstverständlich. Ich glaube auch, dass in der Wissenschaft noch nicht alle verstanden haben, dass es fünf vor zwölf ist und wir uns große Sorgen machen müssen. Ich hoffe, dass auch anderen klar wird, an welcher Stelle wir gerade stehen und dass wir etwas tun müssen, damit es nicht noch schlimmer kommt. Ich glaube, Demokratie muss beispielsweise auch in den Gremien von Hochschulen gelernt werden. Dort sitzen prekär Beschäftigte einer auf Lebenszeit verbeamteten Professor*innenschaft gegenüber. In den Gremien gibt es die Professorenmehrheit und andere Einschränkungen dafür, Demokratie wirklich zu leben. Das zu ändern wäre ein sinnvoller Schritt von vielen, um sicherzustellen, dass sich an den Hochschulen Demokratieverständnis und -verantwortung weiterentwickeln. Auch dafür sollten Abhängigkeitsverhältnisse reduziert werden, damit die Leute sich nicht aus Angst zurückhalten.

Mitarbeit: Klara Laue, Inga Dreyer