Wenn die Liebsten einem Verschwörungsglauben anhängen, ist Stress vorprogrammiert, die tägliche Kommunikation erschwert. Für Angehörige gibt es nun seit diesem Jahr die Beratungsstelle „veritas“. Im Interview spricht Projektleiter Tobias Meilicke über die Arbeit der Beratungsstelle und gibt Tipps für die tägliche Kommunikation.
„Der Bedarf übersteigt unsere Kapazitäten deutlich“
Was ist „veritas“?
Die veritas-Beratungsstelle unter der Trägerschaft von „cultures interactive e.V. – Verein zur interkulturellen Bildung und Gewaltprävention“ berät Menschen, die sich in ihrem näheren Umfeld mit Verschwörungsgläubigen konfrontiert sehen. Also mit Menschen, die sich mindestens einer der vielen Verschwörungserzählungen zugewandt haben. Der Kontakt mit ihnen löst bei vielen Betroffenen Stress und Frustration aus, erschwert die Kommunikation und belastet die Beziehung. Hier stehen wir beratend zur Seite.
Wer nimmt die Beratung in Anspruch?
Vor allem Menschen, deren Partner*innen einem Verschwörungsglauben anhängen. Es melden sich aber ebenso Personen, deren Eltern, oder auch Erwachsene, deren Kinder betroffen sind. Außerdem kann es um Menschen aus dem engeren Freundeskreis gehen. Vereinzelt gibt es auch Anfragen von Fachkräften aus den Bereichen Jugendhilfe, Schule und Erwachsenenbildung.
Wie ist die Beratungsstelle entstanden?
Wir stellten fest, dass im Internet zunehmend auf sozialen Medien Personen aus dem Umfeld von Verschwörungsgläubigen ihr Leiden und ihren Stress beklagen. Sie berichten davon, dass die Kommunikation mit den Betroffenen nahezu unmöglich sei. Gleichzeitig aber fühlen sich diese Menschen von den bestehenden Beratungsangeboten mit den Schwerpunkten Rechtsextremismus sowie religiös begründeter Extremismus nicht angesprochen. Zum einen, weil ein Teil von Ihnen das Stigma Rechtsextremismus scheut, zum anderen aber auch, weil ihre Verwandten oder Freunde schlichtweg nicht rechtsextrem sind.
Mit unserem Antrag sind wir dann an verschiedene Behörden herangetreten. Letztlich finanziert hat uns die Landeskommission Berlin gegen Gewalt zwei Personalstellen, worüber wir uns sehr gefreut haben. Diese Förderung läuft jedoch Ende des Jahres leider aus und wir haben noch keine Anschlussfinanzierung. Daher sind wir derzeit stark von Spenden abhängig.
Zumal sich auch schon jetzt klar zeigt, dass der Bedarf unsere Kapazitäten deutlich übersteigt: Bei derzeit 50 und 60 Anfragen im Monat und aus dem gesamten Bundesgebiet kommen wir mit zwei Personalstellen natürlich nicht annähernd hin.
Gibt es denn in anderen Bundesländern vergleichbare Angebote?
Ja, es gibt etwa in Baden-Württemberg die „Stelle für Weltanschauungsfragen (ZEBRA)“ und in Nordrhein-Westfalen die „Sekteninfo“, die sich jeweils auch zu diesem Thema ein gutes Beratungsangebot haben. Mit diesen Stellen pflegen wir natürlich einen engen Austausch.
Wie muss ich mir nun so eine Beratung vorstellen?
Eine vertrauliche Beratung ist bei uns auf verschiedenen Wegen möglich: telefonisch, persönlich in unseren Räumlichkeiten oder im Onlinemeeting. Ein Beratungstermin dauert bei uns immer eine bis eineinhalb Stunden. Wir setzen uns in dabei intensiv mit dem jeweiligen individuellen Anliegen lösungsorientiert und entsprechend der Wünsche der jeweiligen Person auseinander.
Welche Wünsche sind das?
Diese Wünsche lassen sich grob zwei Kategorien zuordnen: Zum einen wünschen sich die Menschen, besser mit der (Stress-)Situation klarzukommen. Viele berichten uns von einem sehr hohen Leidensdruck, oft sind sie kurz davor, den Kontakt mit dem Verschwörungsgläubigen abzubrechen, weil sie keinen anderen Ausweg mehr sehen.
Zum anderen möchten viele bei den Verschwörungsgläubigen auch Impulse setzen, ihre Lieben ein Stückweit vom Hang zu den Verschwörungserzählungen wieder loslösen.
Kann das gelingen?
Durch unseren systemischen Beratungsansatz haben wir auch eine klare – wenngleich indirekte – Wirkung auf den Verschwörungsgläubigen. Denn die Person, die wir beraten, ändert nach und nach ihre Kommunikation und ihr Verhalten gegenüber dem Verschwörungsgläubigen. In der Folge muss dieser also auch seine Kommunikation und sein Verhalten anpassen. Kurz: Wir drehen ein wenig an einem Rädchen und letztlich müssen alle anderen sich am Ende mitdrehen, wie bei einem Uhrwerk.
Über welchen Zeitraum stehen sie den Menschen beratend zur Seite?
Die Beratung im Konkreten ist dann in drei Schritten zu denken: Zuerst einmal ist es wichtig, sich selbst wieder Freiräume einzugestehen und auch klare Grenzen gegenüber dem Verschwörungsgläubigen zu setzen. Vielen unserer Klienten gelingt es in der Beziehung einfach nicht zu sagen, wenn es ihnen zu viel wird.
Dann geht es darum, die aktuelle Kommunikation zu analysieren: Nicht selten zeigt sich dabei, dass vor allem über Fakten kommuniziert wird und es häufig zu Abwertungen kommt – und sei es nur durch Augenrollen oder das sprichwörtliche Zeigen der kalten Schulter. Es geht darum, zu schauen, wie die Kommunikation anders gehen könnte. Ein Kernpunkt dabei ist, mehr über Gefühle zu sprechen, empathischer zu sein.
Schließlich gilt es zu schauen, welche Funktionen den Verschwörungserzählungen im Leben der anderen Person zukommen. Denn nur auf Basis dieses Wissens kann ich Gegenangebote machen. Und die machen Distanzierungsprozesse überhaupt erst möglich.
Sind manche Menschen anfälliger für Verschwörungsglauben?
Verschwörungsgläubigkeit hat, das ist wirklich wichtig, wenig mit Intellektualität und Rationalität zu tun. In erster Linie stehen soziale Bedürfnisse und Wünsche dahinter. Ein sehr wichtiges Bedürfnisse ist dabei das Kontrollbedürfnis. Wir Menschen sind stets daran interessiert, ein hohes Maß an Kontrolle über unser Leben zu haben. Verspüren wir also einen Kontrollverlust, versuchen wir den Mangel zu kompensieren. Hier kommen dann für manche Menschen als mögliche Lösung auch Verschwörungserzählungen ins Spiel. Wir haben das anhand der Coronapandemie sehr gut sehen können: Es ist für Menschen nicht leicht auszuhalten, dass ein so kleines unsichtbares Virus – und der reine Zufall – unser Leben so existenziell beeinflussen und bedrohen. Direkt und unmittelbar können sie zudem wenig gegen so ein Virus tun. Wenn sie aber annehmen, dass es eben kein Zufall war, sondern womöglich eine Elite verantwortlich ist, dann gibt es damit also auch etwas, wogegen sie agieren können. Dies ist der Hintergrund, vor dem sie dann lautstark Aufklärungsarbeit leisten, anderen quasi die Welt, wie sie wirklich ist, erklären.
Neben dem Kontrollbedürfnis spielt aber auch noch der Selbstwert eine große Rolle: Denn wenn sie vielleicht ein geringes Selbstwertgefühl haben, dann wird dies natürlich erhöht, wenn sie sich zur Elite oder Avantgarde erklären – zu denen, die die Welt, im Gegensatz zu den vielen „Schlafschafen“, verstehen. Oft ist es dann auch so, dass jeder Angriff auf die eigene Person letztlich auch als ein Angriff auf genau diese Position verstanden wird. Und diese wir dadurch dann nur weiter bestätigt, was den Selbstwert womöglich noch weiter stabilisiert.
Gibt es noch weitere Gründe?
Tatsächlich ist auch Langeweile ein Grund, sich Verschwörungen zuzuwenden. Das ist etwas, was durch die Pandemie sicherlich verstärkt wurde: Menschen haben sich aktiver Verschwörungserzählungen zugewandt. Schließlich sind Verschwörungserzählungen auch sehr spannende Geschichten, die einem schon beschäftigen können.
Auch spielen gruppendynamische Prozesse noch eine Rolle: Gruppen befriedigen natürlich auf besondere Weise Bedürfnisse wie – nach innen – Geborgenheit, Halt, und Nähe und – nach außen – Distanz und Abgrenzung. Kurz, sie geben einem Menschen eine Identität.
Hat die Verbreitung von Verschwörungstheorien in der Pandemie zugenommen?
Studien haben zwar gezeigt, dass auch schon vor der Pandemie bis zu 33 % der Deutschen eine sogenannte Verschwörungsmentalität aufwiesen – daran hat sich auch nichts geändert – doch die Pandemie mit diesen ständigen Positionierungen hat diese Tatsache sichtbarer gemacht.
Wie kann verhindert werden, dass jemand in eine solche Richtung abrutscht? Gibt es Warnsignale?
Meist fängt es ja harmlos an. Menschen recherchieren im Internet zu Corona, treffen dabei aber oft und schnell auf Verschwörungserzählungen. Doch sobald jemand tief an eine oder mehrere Verschwörungen glaubt, dann geht damit auch eine klare Schwarz-Weiß-Sicht einher. Die Menschen entwickeln ein vereinfachtes Weltbild, bei dem es eine kleine machtvolle Elite gibt, die Böses will und gegen die Interessen der Mehrheitsgesellschaft agiert. Dann geht es allerdings auch nicht mehr um die Sache an sich, sondern um eine Schuldfrage. Insofern: Verschwörungsgläubige – das ist auf jeden Fall ein deutliches Warnsignal – können ihnen immer sagen, wer die Schuld trägt. Sie lassen sich dabei auch nicht auf andere Argumente ein. Im Gegenteil, oft wird ein Gegenargument vielmehr als Beleg für die Verschwörung gedeutet. Auch nehmen sie andere Sichtpunkte als die ihrigen überhaupt nicht mehr wahr.
Darüber hinaus entwickeln Verschwörungsgläubige einen starken missionarischen Eifer, nicht zuletzt im persönlichen Umfeld. Sie wollen, dass wir – vor allem die wirklich nahestehenden Menschen – die Verschwörungen, die sie erkannt haben, auch erkennen.
Was kann ich denn konkret tun im Umgang mit mir nahestehenden Verschwörungsgläubigen?
Wichtig ist vor allem, mit Menschen, die fest an Verschwörungen glauben, nicht auf der Faktenebene zu verharren. Das ist relativ schwierig, denn wenn wir Menschen erst einmal ein Weltbild geformt haben, dann ist dieses Weltbild stark an unser Selbstbild gekoppelt. Wenn ich also versuche, jemanden auf der Faktenebene zu überzeugen, dann greife ich ihn damit indirekt – so wird es zumindest von der anderen Seite wahrgenommen – auch in seiner Persönlichkeit an. Das setzt sofort einen Abwehrmechanismus in Gang und ein Erreichen der anderen Person ist dann quasi ausgeschlossen. Und wenn wir dann gegen eine Wand sprechen, steigt dies nur unsere eigene Frustration, die gegebenenfalls, wenn wir ungehalten werden, nur zu noch stärkerer Abwehr führen kann. Auch kann durch die weitere Abwertung des Selbstwerts eine Person womöglich noch weiter in den Glauben an die Verschwörung hineingetrieben werden.
Hinzu zu diesen Gefühlen, diesen Ängste – bis hin zu einer empfundenen existenziellen Bedrohung – kommen im Familienkontext natürlich auch Gefühle von Zuneigung und Liebe. Wenn mein*e Partner*in mir also von Verschwörungen berichtet, dann tut sie oder er das vielleicht auch, um mich zu schützen. Und das ist etwas, worüber man ins Gespräch kommen kann.
Je mehr ich es schaffe, das durch die Verschwörungserzählung befriedigte Bedürfnis wieder anderweitig zu befriedigen, umso eher kann sich eine Person wieder von dieser distanzieren und auf andere Argumente einlassen. Und das muss das Ziel sein von Beratung und Kommunikation.
Gibt es Handreichungen, die sie empfehlen würden?
Es gibt mittlerweile wirklich viel gute Literatur zum Thema. Zu empfehlen sind hier etwa die Bücher von Pia Lamberty (z.B. „True Facts: Was gegen Verschwörungserzählungen wirklich hilft“; zusammen mit Katharina Nocun) oder von Sarah Pohl (z.B. „Alles Spinner oder was?“) von der Weltanschauungsstelle ZEBRA. Hier kann man bei der Lektüre bereits eine ganze Reihe von Kommunikationstipps erhalten. Daneben hat auch etwa die österreichische Journalistin Ingrid Brodnig mit „Einspruch! Verschwörungsmythen und Fake News kontern – in der Familie, im Freundeskreis und online“ ein gutes Buch geschrieben. Auch aus dem Buch mit dem schönen Titel „Starrköpfe überzeugen“ von Sebastian Herrmann lässt sich einiges ziehen. Sicher ist auch die Literatur zu Gewaltfreier Kommunikation nach Marshall B. Rosenberg ein guter Zugang. Die Frage ist immer, ob man in einer Situation großen Stresses die entsprechenden Ideen auch wirklich abrufen kann.