In einem partizipativen Online-Bürgerforum haben Bürger*innen Handlungsempfehlungen für die Nutzung von Ortungssystemen für Menschen mit Demenz erarbeitet. Im Interview sprechen die Projektbeteiligten Sabrina Krohm und Ruben Sakowsky über die Arbeit des Bürgerforums und wie relevant das Thema Demenz für das Gesundheitswesen von morgen ist.
„Demenz ist ein Thema, das alle angeht“
Sie haben in dem Projekt „Zukunft Diskurse – Unser Gesundheitswesen von morgen. Digitalisierung, Künstliche Intelligenz, Diversität“ Handlungsempfehlungen erarbeitet für die Nutzung von GPS-Trackern bei Menschen mit Demenz. Warum ist das Thema relevant für das Gesundheitswesen von morgen?
Ruben Sakowsky: Wir haben es hier mit zwei wichtigen gesellschaftlichen Veränderungsprozessen zu tun. Das eine ist der demografische Wandel, das Thema Demenz wird uns in nächster Zeit sehr viel stärker beschäftigen. Es ist zu erwarten, dass wir bis 2050 2,8 Millionen Menschen mit Demenz in Deutschland haben werden. Dazu kommt die fortschreitende Digitalisierung, die gerade durch die Corona-Pandemie einen großen Schub erfahren hat. Uns stehen daher neue Möglichkeiten offen, mit vielen Folgeproblemen der Demenz anders umzugehen. Es war uns wichtig das Thema anzugehen, Positionen aus der Gesellschaft mit einzubringen und diese wissenschaftlich zu analysieren.
Sabrina Krohm: Dazu gibt es aktuell schon ungefähr 1,8 Millionen Menschen mit Demenz in Deutschland. Demenz kann potenziell jede*n treffen. Das macht es zu einem aktuellen, gesellschaftlich relevanten Thema.
Zu welchem Zweck kann GPS bei Menschen mit Demenz eingesetzt werden?
Sakowsky: Ganz kurz zu diesen GPS Systemen: Da gibt es ganz viele verschiedene Anwendungen. Es geht von der App auf dem Handy bis hin zu Wearables, beispielsweise ein Armband mit dieser Technologie oder eine Anbringung im Schuh. Nun treten bei vielen Menschen mit Demenz sogenannte Hinlauftendenzen auf. Das bedeutet, dass diese Menschen zumindest für Außenstehende scheinbar ziellos umherlaufen. Dabei setzen sie sich möglicherweise Gefahren aus. Diese GPS-Geräte sollen eingesetzt werden, um herauszufinden, wo sich eine Person mit Demenz befindet, wenn sie von diesen Hinlauftendenzen betroffen ist. Soweit die Theorie. Da ergeben sich natürlich ganz viele verschiedene ethische Fragen, gerade in Bezug auf die Privatsphäre dieser Menschen und in Bezug auf ihre Einwilligungsfähigkeit. Aber auch Detailfragen wie: Wie genau sollte diese Ortung sein? Wer sollte Zugriff auf die entstehenden Daten haben? Wie werden diese Daten verarbeitet und wo werden sie gespeichert? Es gibt demnach viele ethische Fragen, die alle keine einfache Antwort haben.
Krohm: Dazu gehört auch die Perspektive der Angehörigen und Pflegenden. Aus dem privaten Umfeld stößt man öfter auf solche Geschichten, dass jemand mit Demenz verschwunden ist. Das bedeutet großen Stress für die verantwortlichen Personen.
Für die Erarbeitung der Handlungsempfehlungen haben Sie ein Bürgerforum eingesetzt. Warum haben Sie diesen partizipativen Ansatz gewählt?
Sakowsky: Die Frage kann man auf ganz unterschiedliche Arten und Weisen beantworten: Zum einen ist Demenz ein Thema, das alle angeht. Aus dieser Perspektive heraus war es uns wichtig, das aus dem Expertendiskurs herauszulösen und Positionen aus der Gesellschaft mit einzubringen. Die Methode selbst ist ein partizipativer, aber auch ein deliberativer Ansatz. Durch diesen dynamischen, interaktiven Prozess kommen ganz neue Ansichten heraus, die wir durch statische Verfahren nicht erfahren hätten. Übertragen auf den Onlineraum liefert dies neue Chancen, aber auch methodische Herausforderungen.
Beteiligungsprojekt „Unser Gesundheitswesen von morgen: Digitalisierung – Künstliche Intelligenz – Diversität“
Das Bürgerforum war Teil des Online-Beteiligungsprojektes „Unser Gesundheitswesen von morgen: Digitalisierung – Künstliche Intelligenz – Diversität“ des Instituts für Ethik und Geschichte der Medizin der UMG. Das Projekt wurde als „Zukunftsdiskurs“ von April 2021 bis September 2022 durch das Niedersächsische Ministerium für Wissenschaft und Kultur aus Mitteln des Niedersächsischen Vorab gefördert. Die Leitung des Projekts hatte Prof. Dr. Silke Schicktanz vom Institut für Ethik und Geschichte der Medizin der UMG. Das Online-Bürgerforum fand in Kooperation mit Prof. Dr. Mark Schweda von der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg statt.
Krohm: Weil es um Digitalisierung geht, haben wir auf den digitalen Raum zurückgegriffen, um dort die Leute zu erreichen. Das ist natürlich immer ein Abwägen. Von den Teilnehmenden wurde uns gespiegelt, dass einige gerade deshalb teilnehmen konnten. Trotzdem werden dadurch potenzielle Ausschlüsse erzeugt, denn das setzt voraus, dass Leute sich online mit einer gewissen Selbstverständlichkeit bewegen. Das kann beispielsweise ältere Generationen oder Personen, die nur über eine schlechte technische Infrastruktur verfügen, ausschließen. Ganz konkret haben wir die Teilnehmenden gemeinsam in digitale Räume für parallele Diskussionen gesetzt. Was uns zurückgemeldet wurde ist: Es ist sehr intensiv, online zuzuhören und zu diskutieren. Das Forum fand abends statt und die Teilnehmenden haben das ehrenamtlich in ihrer Freizeit gemacht. Man überlegt daher, wie lang so eine Sitzung sein darf. Zum einen braucht es Zeit, um in der Tiefe zu diskutieren und zum anderen braucht es die Konzentration dafür. Das sind viele Abwägungen auf mehreren Ebenen. Da haben wir noch keine ideale Lösung gefunden.
Sakowsky: Aus organisatorischer Sicht spannend: Mit einer Onlineveranstaltung erreichen wir Zielgruppen, die wir sonst nicht erreichen würden. Dazu sind Onlineveranstaltungen günstiger, leichter und können öfter durchgeführt werden. Allerdings sind die Effekte von Onlinedeliberation und inwiefern diese sich von Präsenzdeliberation unterscheidet, noch relativ schlecht erforscht. Wir möchten dazu beitragen, dass wir diese Prozesse verbessern können, damit sie weniger anstrengend sind und wir mehr Menschen erreichen können. Aber da stehen wir wirklich noch ganz am Anfang.
Wer engagierte sich beim Bürgerforum und wie haben Sie diese Personen ausgewählt?
Krohm: Rekrutiert haben wir über verschiedene Kanäle, unter anderem via Social Media wie Facebook und Instagram. Wir haben auch Mailverteiler genutzt. Zudem haben wir Flyer verteilt und aufgehängt. Die Leute haben sich dann beworben und es gab einen kurzen Online-Fragebogen. Damit bekamen wir zwischen 80 und 90 Bewerbungen und am Ende 17 Teilnehmende. Diese haben wir unter Berücksichtigung von beispielsweise Geschlecht, Alter, Berufsgruppe ausgelost. So konnten wir steuern, dass das Sample möglichst divers wird.
Wie lautete Ihr Auftrag an das Bürgerforum?
Sakowsky: Da müssen wir ein klein bisschen auf den Prozess eingehen. Zum einen hatten wir sachverständige Vorträge zu verschiedenen Aspekten des Themas. Da ging es darum, dass wir Informationen in die Gruppe einbringen. Die Teilnehmenden hatten im Anschluss Zeit, Rückfragen zu stellen. Außerdem war es wichtig, den Teilnehmenden viel Zeit zur Diskussion für die Erstellung der Handlungsempfehlung zu geben. Das ist uns ganz wichtig zu betonen. Die Teilnehmenden hatten den größtmöglichen Einfluss auf diese Handlungsempfehlung und diese wurde von ihnen selbst verfasst.
Krohm: Wir wollten das Thema nahbar gestalten. Konzeptionell sind es auch immer wichtige Überlegungen, wie man das Alltagswissen mit Hintergrundwissen zur Diskussion überbrücken kann. Der Arbeitsauftrag war dann, dass die Teilnehmenden in der Gruppe diskutieren, welche Themenaspekte ihnen wichtig erscheinen, welche Überthemen und Priorisierungen es geben soll. In diesem Fall war es ein sehr offener Arbeitsauftrag.
Was wünschen sich die Bürger*innen in Bezug auf das GPS-Tracking?
Krohm: Generell befürworten die Bürger*innen den Einsatz solcher Systeme. Am wichtigsten war den Teilnehmenden eine absolute Freiwilligkeit dieser Maßnahmen. Dazu muss verhindert werden, dass Menschen indirekt zu einer Ortung gezwungen werden, zum Beispiel indem eine Vergabe von Heimplätzen an eine Einwilligung gekoppelt wird. Darüber hinaus war den Bürger*innen der Stellenwert der gesellschaftlichen Aufklärung wichtig. Sowohl über Demenz als Krankheit selbst, als auch zu den Ortungssystemen und deren Funktionen. Mit dem Ziel, dass Personen mit Demenz in ihrer Vorausverfügung selbst bestimmen können, ob sie so einer Ortung zustimmen. Das setzt voraus, dass man sich frühzeitig mit dem Thema auseinandersetzt. Ein weiterer Punkt, der auch noch viel diskutiert wurde, war der Schutz der sehr sensiblen Daten.
Gab es für Sie während des Prozesses und auch bei den Ergebnissen Überraschungen?
Krohm: Die Teilnehmenden waren ziemlich engagiert, es gab sogar einen Zusatztermin. Dazu gab es viel Interesse am Bürgerforum. Ich hatte den Eindruck, dass es den Leuten ein wichtiges Anliegen war.
An wen richten sich Ihre Handlungsempfehlungen genau? Wie wurden diese aufgenommen?
Krohm: Erst hatten wir das für die Teilnehmenden offengelassen. Dazu haben wir möglichst verschiedene Stakeholder eingeladen. Gruppen, die sich mit dem Thema beschäftigen und die das in ihrem Tagesgeschäft betrifft. Es gab viel Zustimmung zu den Punkten der Handlungsempfehlung, aber es sind auch ein paar Konflikte klar geworden. Beispielweise beim Datenschutz, der relativ stark von den Teilnehmenden betont wurde. Die Forschung auf der anderen Seite kann ein starkes Interesse an Datennutzung haben. Das ist diese Abwägung zwischen Privatsphäre des Individuums und weiteren Nutzen. Einen großen Konsens gab es bezüglich der prinzipiellen Ausrichtung auf die Bedürfnisse der Betroffenen.
Sakowsky: Es ist klar geworden, dass alle Beteiligten großes Interesse am Wohl der Betroffenen haben. Die Abwägung zwischen Sicherheit auf der einen Seite und Privatsphäre auf der anderen war ein grundlegendes Dilemma, dass unsere Teilnehmenden beschäftigt hat. Deshalb ist es wichtig, dass diese Ansätze weiterentwickelt werden und so viel Bürgerbeteiligung wie möglich zu realisieren, um diese Fragen auf eine ganz breite Diskussionsbasis zu stellen.