Screenshot, Foto: Jewgenija Shulanowa/Takie Dela

Dekoder – Russland zwischen Wissenschaft und Journalismus

Journalistische Berichte über Russland kombiniert das Online-Medium dekoder.org mit Expertise aus europäischen Forschungsinstituten – und wurde dafür mit dem Grimme-Online-Award ausgezeichnet. Das Redaktionskonzept dahinter und warum die Kombination gerade für den Russland-Diskurs wichtig ist, erklärt Wissenschaftsredakteur Leonid Klimov.

„Wissenschaftler können selten gut schreiben und wenn sie ein Interview geben, versteht kein Mensch, worum es überhaupt geht“. „Journalisten haben keine Ahnung vom Thema und selbst wenn sie auf die Fachliteratur zugreifen, geben sie alles verkürzt und verflacht wieder“. Das sind zwei typische Vorwürfe, die sich Wissenschaft und Journalismus gegenseitig machen, auch wenn womöglich in einer höflicheren Form. Diese beiden Systeme scheinen oft in parallelen Realitäten zu existieren. Hier eine Schnittstelle aufzubauen ist nicht einfach. Das Online-Medium dekoder.org versucht es. Sie auf einer Plattform zu vereinen, war die Grundidee des 2015 von Martin Krohs gegründeten Online-Magazins zu Russland – das bereits wenige Monate nach dem Launch mit dem Grimme Online Award ausgezeichnet wurde. Dem Team, so die Begründung der Jury, gelinge es, die Brücke zwischen wissenschaftlichem und journalistischem Arbeiten zu schlagen.

Am Beispiel Russland wird die Notwendigkeit dieser Brücke sehr deutlich. Spätestens seit Beginn der Konflikte in der und um die Ukraine im Jahr 2014 lässt sich eine Polarisierung des europäischen Russland-Diskurses beobachten. Fake news und Propaganda-Narrative, wie sie nicht zuletzt auch von offizieller russischer Seite verbreitet werden, werden von Teilen der europäischen Öffentlichkeit oft mit erschreckender Naivität rezipiert. Andererseits kranken auch manche Analysen in westlichen Medien an einer ungenügenden Kenntnis der politischen, sozialen und kulturellen Verhältnisse in Russland. Löbliche Ausnahmen machen die Regel nur deutlicher.

Das neueste Großprojekt ist das Multimedia-Dossier „Archipel Krim“. Foto: decoder
Das neueste Großprojekt ist das Multimedia-Dossier „Archipel Krim“. Filmstill: Sergey Melikhov

Die Expertise ist vorhanden und greifbar: Forschungsinstitute, wie die Forschungsstelle Osteuropa an der Universität Bremen oder das Leibniz-Institut für Ost- und Südosteuropa – um nur einige zu nennen – generieren sie kontinuierlich. Das Problem besteht jedoch darin, dass der enorme Schatz an Russland-Kompetenz aus wissenschaftlichen Forschungseinrichtungen oft im wissenschaftlichen Kosmos bleibt, nicht ohne Weiteres zugänglich ist und im öffentlichen bzw. medialen Diskurs nur eine Nebenrolle spielt. Es fehlen Räume, in denen sich Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler explizit an eine breitere Öffentlichkeit und nicht an die eigene scientific community wenden können. Es fehlt an Infrastruktur, die dem mediengerechten Wissenstransfer dient und es mangelt an medialen Formaten, die wissenschaftsbasierten Content rezipierbar machen. Hier setzt dekoder an. Wir übersetzen die russischen unabhängigen (also nicht vom Staat kontrollierten) Medien ins Deutsche und verbindet die Übersetzungen mit den Hintergrundtexten von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern.

Gnosen – Hintergrundformat zwischen Wissenschaft und Web

Diese Texte heißen auf dekoder Gnosen – eine Wortschöpfung, die das griechische gnosis (Wissen) mit der aus dem Lateinischen entliehenen Glosse vereint. Mit Gnosen erklärt dekoder den deutschen Lesenden historische Fakten, Namen, Institutionen, Phänomene und spezifische Begriffe und Gegenstände. Ohne diese Kontextualisierungen bleibt die russische Realität unverständlich und fremd. Gleichzeitig bringt dekoder mit den Gnosen Forschungsergebnisse aus den Instituten in den Mediendiskurs ein.

Man könnte Gnosen auch als Hintergrundtexte oder Expertentexte bezeichnen, beide Beschreibungen treffen aber nicht ganz zu. Denn hinter dem Begriff Gnose verbirgt sich nicht nur eine Wortschöpfung, sondern auch die Entwicklung eines Textformats, das speziell auf das Medium Internet zugeschnitten ist.

Die Gnosen werden von Forschenden geschrieben, sie entstehen aber in einem komplexen redaktionellen Vorgang, in dem die Redaktion mit den Autorinnen und Autoren eng zusammenarbeitet. Die Textgattung steht für eine klare, einfache Sprache, journalistischen Stil und Aufbau. Gleichzeitig entspricht jeder Text wissenschaftlichen Kriterien.

Die Gattung und deren Bezeichnung hat sich sowohl unter den dekoder-Lesenden, als auch in Kreisen der Osteuropawissenschaftlerinnen und -wissenschaftler durchgesetzt. Nun wird über Gnosenautoren oder schlicht Gnosisten gesprochen, ein Begriff muss vergnost werden, die Texte können mehr oder weniger gnosig sein, zusammengenommen stellen die Gnosen einen Gnosmos dar – eine Visualisierung des ganzen Gnosenmoduls von dekoder.

Alle zusammen stellen die Gnosen einen Gnosmos dar, eine Visualisierung des ganzen Gnosemoduls von dekoder. Bild: screenshot dekoder.org
Alle zusammen stellen die Gnosen einen Gnosmos dar, eine Visualisierung des ganzen Gnosemoduls von dekoder. Bild: screenshot dekoder.org

Das Format hat aber seine Grenzen, denn Gnosen sind jeweils nur einem Begriff und einem Phänomen gewidmet, sind kurz und können komplexe wissenschaftliche Inhalte und Debatten nicht wiedergeben. Um den nächsten Schritt zu schaffen, haben dekoder und die Forschungsstelle Osteuropa an der Universität Bremen mit freundlicher Unterstützung der VolkswagenStiftung im Januar 2019 das Projekt „Wissenstransfer hoch zwei – Russlandstudien“ gestartet. Dieses hat sich zum Ziel gesetzt, eine neuartige Schnittstelle zwischen Journalismus und Wissenschaft – zunächst mit Bezug zu Osteuropa – aufzubauen. Konkret heißt das: Gemeinsam werden gesellschaftlich relevante Inhalte aus der Wissenschaft identifiziert und gesammelt und schließlich in neuen wissenschaftsbasierten und mediengerechten Online-Formaten dargestellt. Das Ziel ist, sie in den Mediendiskurs einzubringen und die Berichterstattung durch forschungsbasierte Informationen zu ergänzen.

Wissenschaft versus Internet

Braucht man überhaupt spezielle Online-Formate, um Wissenschaft im Internet präsent zu machen? Ja, denn die wissenschaftlichen Inhalte sind tief in der offline-Realität verankert und dem Medium Internet meist ziemlich fremd. Begriffe wie Wissenschaftskommunikation, Wissenschafts-PR oder selbst Wissenstransfer (auch wenn der letzte im Projekttitel steht) werden dem Geiste des Internets selten gerecht. Die Richtung der Kommunikation ist meist vorprogrammiert: Wissenschaft kommuniziert, Wissen wird transferiert, vom Sender zum Empfänger, vom Kenner zum Nicht-Kenner, in eine Richtung. Das Internet funktioniert aber oft anders – nicht linear, sondern asynchron und die verbreitete Anonymität sorgt auch für den Abbau der Autoritäten: Wissenschaftliche Titel können eine Rolle spielen, sind aber durchaus nicht das Wichtigste.

Content neuen Typs

Nach der Erfindung des Buchdrucks wurden erst Manuskripte gedruckt, denn den für Bücher geeignete Content, Verlage und andere sozialen Institutionen und Nutzungsmuster gab es noch nicht. Nach der Erfindung des Internets wurden dann PDF der Bücher hochgeladen.[1] Die digitale Kommunikation benötigt aber einen Content neuen Typs. Wissenschaftsbasiert, aber eben keine Wissenschaftskommunikation im bisherigen – oft analogen – Sinne.

Visionär lässt sich vermuten, dass – wie im Fall des Buchdrucks allmählich Verlage, Fachbücher, Grammatiken und letztendlich die Wissenschaft im heutigen Sinne entstanden ist – sich auch um das Internet herum allmählich Formate entwickeln, die man heute weder benennen noch beschreiben kann. Und wenn das Internet auch für die Wissenschaft zu einem Medium wird, das das Buch zumindest ergänzt, wird sich auch die Wissenschaft verändern. Es geht nicht nur um den gesellschaftlichen Drang nach mehr Transparenz und Output, es geht schlicht darum, dass das genutzte Medium eigene Regeln diktiert. Diese zu ignorieren würde bedeuten, die Kluft zwischen Wissenschaft und Gesellschaft noch größer zu machen.

Wie kann also wissenschaftsbasierter Content im Internet aussehen und welche Formate sind dafür geeignet? Diese Frage ist offen und niemand weiß, welche Formen sich behaupten werden. Im Rahmen des Projekts „Wissenstransfer hoch zwei“ experimentiert das dekoder-Team deshalb mit neuen größeren und kleineren Formaten. Der Testballon ist das Multimedia-Dossier „Archipel Krim, das im Mai 2019 auf dekoder.org erschienen ist – in Kooperation mit der Forschungsstelle Osteuropa und dem Zentrum für Osteuropa- und internationale Studien (ZOiS).

Archipel Krim

Das Dossier wurde von Forschenden, Journalistinnen und Journalisten sowie Medien-Entwicklern gemeinsam konzipiert und umgesetzt. Insgesamt haben sich instituts- und fachübergreifend rund 30 Forschende aus der Soziologie, Geschichts-, Politik- und Literaturwissenschaft sowie Theologie daran beteiligt. Das Ergebnis ist ein mosaikartiges Bild der Krim, das nicht aus einer einzigen Studie oder einer Reportage, sondern aus verschiedenen Quellen zusammengesetzt ist. Die wissenschaftlichen Inhalte stehen neben journalistischen und fotografischen, beweisen sich gegenseitig oder widersprechen sich – schaffen jedenfalls ein mehrdimensionales Bild.

Die größten Herausforderungen in diesem und weiteren Specials, an denen dekoder mit der Forschungsstelle Osteuropa und anderen Instituten arbeitet, sind die unterschiedlichen Anforderungen von Wissenschaft und Journalismus. Vor allem im Bezug auf das Zeitliche: Journalismus ist schnelllebig, Wissenschaft dagegen will fundiertes Wissen generieren, das im Idealfall kein Verfallsdatum hat. Zusammenarbeiten heißt, in diesem Spannungsfeld, nach Kompromissen zu suchen. So war es auch bei „Archipel Krim“: Es hat sich zwar an den Jahrestagen der Ereignisse auf der Krim im Jahr 2014 orientiert und damit aktuelles mediales Interesse bedient. Gleichzeitig ist es aber ein auf die Dauer angelegtes Nachschlagewerk, eine Art Enzyklopädie zu zentralen wissenschaftsbasierten Erkenntnissen über die Ereignisse und deren Kontext.

Weitere Specials, die gerade in Entstehung sind, werden nicht nur thematisch, sondern auch konzeptionell anderes aufgebaut werden. Sie sollen mehrere miteinander verbundene Formate beinhalten, die verschiedene Rezipientinnen und Rezipienten ansprechen, unterschiedliche Lesestrategien erlauben und mit unterschiedlichen Kanälen des Internets verzahnt sind.


Projektsteckbrief

Träger: Dekoder-gGmbH

Budget/Finanzierung: dekoder ist ein gemeinnütziges Projekt, das mit Spenden finanziert wird. Die Anschubfinanzierung stammt aus der privaten Erbschaft des Gründers Martin Krohs. Das Backoffice wird von der Konvert-Stiftung unterstützt. Projektbezogen wird dekoder von der ZEIT-Stiftung Ebelin und Gerd Bucerius, der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur, der Robert Bosch Stiftung und anderen gefördert. Außerdem spielen Leserspenden und Beiträge des dekoder-Klub eine große Rolle. Das Projekt „Wissenstransfer hoch zwei – Russlandstudien“ wird in der Kooperation mit der Forschungsstelle Osteuropa an der Universität Bremen mit finanzieller Unterstützung der VolkswagenStiftung umgesetzt. Insgesamt besteht die dekoder-Redaktion aus 6 festangestellten Redakteuren, das Jahresbudget beträgt rund 400.000 Euro pro Jahr.

Ziele: Zugang schaffen zum russischen zivilgesellschaftlichen Diskurs und zur Kompetenz der Forschungsinstitute

Zielgruppen: Allgemein interessierte Leserinnen und Leser

Zahlen zur Zielerreichung: dekoder ist ein Nischenmedium mit einer durchschnittlichen Reichweite von 100.000 Unique pageviews im Monat, Tendenz steigend

Weitere Informationen:

dekoder – Worum es geht


 

Gastbeiträge spiegeln nicht zwangsläufig die Meinung der Redaktion wider.

 

[1] Kubicek, Herbert / Schmid, Ulrich / Wagner, Heiderose (1997): Bürgerinformation durch «neue» Medien? Analysen und Fallstudien zur Etablierung elektronischer Informationssysteme im Alltag. Opladen. S. 33.