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Das Problem mit „Follow the Science“

Die Bewegung „Scientists for Future“ setzt auf wissenschaftliche Fakten, um den Klimaschutz voranzutreiben. Doch Politikberater Peter Strohschneider warnt vor einer übermäßigen Wissenschaftsgläubigkeit. Wie viel Wissenschaft verträgt die Politik, bevor es zum Problem für die Demokratie wird?

Freiheit und Verantwortung sind zentrale Konzepte, die den Kern wissenschaftlicher Arbeit und der Wissenschaftskommunikation berühren. In dieser Reihe beleuchten wir aktuelle Debatten um die Wissenschaftsfreiheit, das Erstarken populistischer Bewegungen und das Ringen um konstruktive Dialoge zwischen Interessengruppen.

Peter Stohschneider lehrte Literaturwissenschaft an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Er war unter anderem Vorsitzender des Wissenschaftsrats sowie Präsident der Deutschen Forschungsgemeinschaft und leitet derzeit als Sonderberater der Europäischen Kommission den Strategiedialog zur Zukunft der Landwirtschaft. Bild: Peter Stohschneider

Herr Strohschneider, die Forderung „Follow the science“ passt gut auf ein Protestplakat. Was sollte Ihrer Meinung stattdessen darauf stehen?

Vielleicht „Runter vom Gas“ oder „CO2-Steuer jetzt“. Der Klimawandel muss ja nicht bekämpft werden, weil Wissenschaftler*innen davor warnen, sondern weil er äußerst gefährlich für uns alle ist. Zudem scheint es mir politisch erfolgversprechender, praktische Fragen in den Vordergrund zu stellen und auf Parolen eher zu verzichten, die von anderen als Einladung zum Kulturkampf verstanden werden können.

Wo liegen denn die Grenzen von „Follow the science“?

Ein Rezensent meines Buches hat das recht treffend auf die Formel gebracht: „Ich hab‘ ein Stethoskop, ich hab‘ Recht“. Was ich sagen will: Es spricht alles für Bürger*innenbeteiligung und vieles auch für Klimaaktivismus. Mein Argument ist nicht, dass Bürger*innen sich nicht beteiligen sollen. Selbstverständlich sollen sie, sonst geht der Laden unter. Was ich aber kritisiere, ist der Gebrauch von Wissenschaft, den Gruppen wie „Scientists for Future“ oder „Scientist Rebellion“ dabei machen. Nämlich der Versuch, politische Aushandlungsprozesse durch wissenschaftliches Wissen zu ersetzen.

„Mein Argument ist nicht, dass Bürger*innen sich nicht beteiligen sollen. Selbstverständlich sollen sie, sonst geht der Laden unter.“ Peter Strohschneider

Es müssen nämlich beim Kampf gegen die Erdüberhitzung oder das Artensterben unentwegt Entscheidungen getroffen werden, die sich nicht aus dem überwältigenden Konsens der Klimaforschung ergeben. Dieser Konsens ist zum Beispiel für den Streit um die Kernenergie wenig informativ. Oder um es am Beispiel von Lützerath im rheinischen Braunkohlerevier zu sagen: Der klimawissenschaftliche Konsens sagt wenig darüber, ob dieses Dorf abgebaggert werden soll oder nicht. Denn es geht hier um ein ganzes Geflecht unterschiedlicher klimapolitischer, rechtlicher, ökonomischer, symbolischer oder Machtfragen, und die konkreten Auswirkungen auf das Klima sind in der einschlägigen Forschung gerade umstritten.

Wie wurde Ihr Interesse an diesem Thema ausgelöst?

Es war ein Buch von Uwe Schneidewind und Mandy Singer-Brodowski, das mein Interesse geweckt hat. Es heißt „Transformative Wissenschaft“ und entwirft eine Ausrichtung der gesamten Wissenschaften und ihrer Steuerung auf die Fragen der ökologischen Krise. Darin kommt eine Negierung oder Verdeckung des Politischen zum Ausdruck. Die Annahme nämlich, Politik könne durch Wissenschaft ersetzt werden. Und das finde ich wissenschaftskonzeptionell und demokratietheoretisch problematisch.

Können Sie das noch näher erklären?

Meine Kritik setzt von zwei Seiten her an: Einerseits nimmt sie die Tradition der Technokratiekritik auf, also die Kritik an der Vorstellung, dass wissenschaftlich-technisches Wissen den politischen Streit überflüssig mache. Das ist ein seit den 60er Jahren etabliertes Thema der Demokratietheorie und Sozialwissenschaften, zu dem ich im Grunde nicht sehr viel Neues beitragen kann.

„Es ist undemokratisch, nicht auf die Überzeugungskraft des Arguments zu setzen, sondern auf eine vermeintlich überlegene soziale Rolle.“ Peter Strohschneider
Andererseits will ich aber auch betonen, dass die modernen Wissenschaften zwar verlässliches Wissen erzeugen, das gesellschaftliche und politische Prozesse informieren kann und soll, dass dieses Wissen aber prinzipiell revisionsoffen ist, und auch deswegen demokratische Entscheidungsprozesse nicht ersetzen kann.

Inwiefern kann denn die übermäßige Wissenschaftsverehrung, also der sogenannte Szientismus, ein Problem für die Demokratie werden?

Demokratische Herrschaft in pluralistischen Gesellschaften beruht darauf, dass alle Bürger*innen gleiche Mitwirkungsrechte haben. Und es entstünden Probleme, wenn diese Gleichheit der Mitwirkungsrechte dadurch eingeschränkt würde, dass bestimmte Wissensformen anderen grundsätzlich vorgezogen werden. Die Träger*innen dieser Wissensformen hätten dann mehr Macht als andere.

Dieses Machtungleichgewicht würde weiter verschärft, wenn man etwa sagen würde: „Du bist Handwerker, ich bin aber Physikprofessorin und deswegen muss es in Fragen des Klimawandels nach mir gehen!“ Es ist undemokratisch, nicht auf die Überzeugungskraft des Arguments zu setzen, sondern auf eine vermeintlich überlegene soziale Rolle. Wissenschaftliche Expertise darf nicht dazu führen, dass politische Entscheidungen von bestimmten sozialen Rollen abhängig gemacht werden.

Wissenschaft ist nach wie vor ein exklusives System. Wissen, auch wissenschaftliches Wissen hat immer auch soziale Dimensionen. Es ist nicht einfach neutral. Wissenschaftliche Wissen besitzt daher weder innerhalb noch außerhalb der Wissenschaften fraglose Geltung.

„Es wird Sie nicht überraschen, dass ich das ziemlich kritisch sehe.“ Peter Strohschneider

Sie sprechen viel über Physik und Naturwissenschaften. Trifft das auch auf die Geistes- und Sozialwissenschaften zu, oder sehen Sie das in diesem Bereich weniger kritisch? 

Keineswegs! Meine Beispiele ergeben sich aus dem publizistischen Kontext. Die Pandemie, die Klimakrise und die Biodiversitätskrise sowie ihre naturwissenschaftlich-medizinische Bearbeitung sind nun einmal gesellschaftlich besonders präsent. Zudem ist die Klimaforschung interessant als eine Form naturwissenschaftlicher Grundlagenforschung, die eine ganz eigene Stufe gesellschaftlicher Relevanz erreicht hat.

In den Geistes- und Sozialwissenschaften sind die Dinge womöglich auf andere Weise vielschichtig. Ein szientistisches Selbstmissverständnis scheint dort weniger verbreitet, dafür gibt es eine gewisse Anfälligkeit, die eigenen gesellschaftlichen Präferenzen als wissenschaftliche Position zu verstehen. Das zeigt sich derzeit etwa in den Postcolonial Studies. In meinem eigenen Fach, der Literaturwissenschaft, gibt es eine Debatte darüber, wie rechtfertigungsfähig aktivistische Wissenschaft oder die eigenen politischen Überzeugungen als Grundlage der Forschungspraxis seien. Es wird Sie nicht überraschen, dass ich das ziemlich kritisch sehe.

Können Sie noch einmal kurz erklären, was der Unterschied zwischen „Szientismus“ und Szientokratie ist?

Als szientifisch beschreibe ich eine wissenschaftlich Praxis, die sich an die methodischen und theoretischen Standards der jeweiligen Disziplin hält.

Szientismus oder Wissenschaftsgläubigkeit hingegen gebrauche ich als Ausdruck für einen Mangel an wissenschaftlicher Selbstdistanz. Man übersieht dann, dass alles wissenschaftliche Wissen selektives Spezialwissen ist und ‚die‘ Wissenschaft viel mehr weiß als man selbst. Diese Verwechslung des eigenen Wissens mit dem der gesamten Wissenschaften ist ein Kategorienfehler. Und der ist typischerweise verbunden mit der Unterschätzung anderen Wissens – des Alltags, der praktischen Erfahrung, von normativen Orientierung oder Weltdeutungen – , das nicht wissenschaftlich begründet ist und doch lebensnotwendig sein mag.

Szientokratisch schließlich wäre ein politischer Machtanspruch des Szientismus. Als Herrschaftsmodell würde er autoritär.

„Neues Wissen also auch durch ständiges Überarbeiten, durch Kritik bisherigen Wissens: Das nennen wir Erkenntnisfortschritt.“ Peter Strohschneider

Könnte man das also so zusammenfassen, dass Sie sich ein bisschen mehr „Ich weiß, dass ich nichts weiß“ wünschen?

So kann man das sagen. Ich versuche das aus der inneren Zeitstruktur moderner Wissenschaft abzuleiten. Der Gedanke ist, dass bei Kopernikus und Bacon, Galilei und Kepler, Harvey, Leeuwenhoek oder Newton eine neue Form der Naturwissenschaft entwickelt wird. Quelle des Wissens ist nicht mehr die göttliche Offenbarung, sondern die methodische Naturbeobachtung. Noch immer aber handelt es sich um gewisses Wissen. Eben deswegen kann es mit demjenigen der Theologie in Konkurrenz treten.

Peter Strohschneider kritisiert übermäßige Wissenschaftsgläubigkeit. Bild: March for Science Berlin (CC BY 4.0)

Das änderte sich erst in den Jahrzehnten um 1800, als die Idee denkbar wird, dass Erkenntnis ein unabschließbarer Prozess sei, in dem nicht nur weiße Flecken auf der Landkarte des Wissens gefüllt werden, sondern auch Regionen immer wieder neu gezeichnet werden müssen, die man für wohlbekannt hielt.

Neues Wissen also auch durch ständiges Überarbeiten, durch Kritik bisherigen Wissens: Das nennen wir Erkenntnisfortschritt. Solange wir einen solchen Fortschritt für möglich halten, lässt sich nicht behaupten, dass das derzeitige Wissen gewiss und endgültig sei.

Sie sind selbst als Berater in der Politik tätig. Wie nah sollten sich Politik und Wissenschaft sein?

In meiner eigenen Beratungstätigkeit überschreite ich immer wieder die Grenze zwischen Wissenschaft und Politik. Das verlangt nach einer präzisen Trennung der Rollen. Ich glaube, dass wissenschaftliche Politikberatung am besten als ein intermediäres System zwischen Wissenschaft und Politik beschrieben werden kann, das ich Expertisekommunikation nennen möchte.

Dabei spielt nicht allein genuin wissenschaftliches Wissen eine Rolle. Man braucht zum Beispiel das Praxiswissen von Gesundheitsmanager*innen, um eine Pandemie zu bewältigen. Dieses ist teilweise wissenschaftsbasiert, entstammt aber nicht aktueller Forschungspraxis. Und bei der Entwicklung von Gesetzesvorlagen kann es sinnvoll sein, auf den Rat der Verwaltung zu hören. An der Geschichte des Gebäudeenergiegesetzes ist ja zu sehen, das sachliche Richtigkeit wichtig ist, Praktikabilität und gesellschaftliche Akzeptanz aber auch.

Das wäre dann ein Argument für den Wert und die Wichtigkeit der Wissenschaftskommunikation.

Ja. Sie muss freilich in der Sache wie in ihrer Rolle präzise sein. Dabei scheint mir eine klare Unterscheidung von Wissenschaftskommunikation und Wissenschaftsjournalismus geboten. Die Präsentation des Wissenschaftssystems und seiner Arbeit nach außen sollte nicht mit der journalistischen Fremdbeobachtung der Wissenschaft verwechselt werden.

Ich sehe es kritisch, dass diese Unterscheidung oft unscharf bleibt. Es gibt hier drei Ebenen: Die öffentliche Vermittlung wissenschaftlichen Wissens, die kritische journalistische Beobachtung der Wissenschaft und die politische Gestaltung des Wissenschaftssystems. Das deutlich zu unterscheiden, ist nicht immer einfach. Es ist jedoch schon deswegen wichtig, weil sonst das gesellschaftliche Vertrauen in die Wissenschaften erodieren könnte.

Die Wissenschaft sollte nicht zu stark in die politische Sphäre eindringen, aber wie sieht es andersherum aus? Die Fördermittel-Affäre im BMBF, Räumungsanordnungen von Universitäten vom Land Berlin – sehen Sie die Wissenschaftsfreiheit durch versuchte politische Einflussnahme bedroht?

Am Anfang dieser sogenannten Fördermittel-Affäre im BMBF steht meiner Wahrnehmung nach zunächst weniger ein Angriff auf die Wissenschaftsfreiheit, als eine politisch sehr ungeschickte Überreaktion der Hausleitung. Wie es so oft geschieht, ist dann aber der Umgang mit dem Skandal dazu angetan, Mißtrauen zu verstärken.

Insgesamt nehme ich allerdings erhebliche Gefährdungen der Wissenschaftsfreiheit wahr. Sie sind bei vielen autoritären oder autokratischen Regimen nicht zu übersehen. Ebenso wenig bei den rechtspopulistischen Parteien in den – noch – liberalen Demokratien. Denken Sie nur daran, wie das Programm der AfD Wissenschaft politisch direkt instrumentalisieren will.

„Man muss die Unterschiede ernst nehmen: Wissenschaftliches Wissen legitimiert nicht politische Entscheidungen, demokratische Mehrheiten begründen kein wissenschaftliches Wissen.“ Peter Strohschneider

Ganz anders liegen die Dinge in der deutschen Wissenschaftspolitik und -verwaltung. Dennoch: Auch die Forcierung direkter gesellschaftlicher oder ökonomischer Relevanzerwartungen sowie die einseitige Betonung quantitativer Leistungsparameter haben Auswirkungen auf die Wissenschaften, die ihrer Freiheit wenig förderlich sind. Und Vergleichbares gilt für die identitätspolitischen „Campus Wars“.

Wie könnte Ihrer Meinung nach eine konstruktive Allianz zwischen wissenschaftlichen Wahrheiten und politischen Mehrheiten aussehen?

Man muss die Unterschiede ernst nehmen: Wissenschaftliches Wissen legitimiert nicht politische Entscheidungen, demokratische Mehrheiten begründen kein wissenschaftliches Wissen. Und man muss bewusst halten, dass wissenschaftliche Erkenntnis ebenso wie demokratische Entscheidungen in der Moderne prinzipiell revisionsoffen sind. Erst das öffnet den Raum für den Fortschritt des Wissens und für gesellschaftliches Lernen. Und wenn es gut geht, dann lassen sich so die Vernünftigkeit und die Freiheit politischer Entscheidungen demokratisch ausbalancieren.