Der Deutsche Akademische Austauschdienst (DAAD) veröffentlichte ein Positionspapier zur Weiterentwicklung der Außenwissenschaftspolitik. Wie Wissenschaftsdiplomatie in der neuen „Weltunordnung“ agieren sollte erklärt Michael Flacke im Interview.
„Das Positionspapier ist der Versuch, die Welt realistisch zu beschreiben“
Herr Flacke, im Juli veröffentlichte der DAAD das Positionspapier „Außenwissenschaftspolitik für eine multipolare Welt“. Als Anlass wird im Vorwort auch der Krieg in der Ukraine genannt. Es wird von einer neuen „Weltunordnung“ gesprochen und dass die lange gepflegte Annahme einer wertebasierten Zusammenarbeit nicht grundsätzlich positive Effekte habe. Wieso muss Wissenschaftsdiplomatie neu gedacht werden?
Das Positionspapier ist der Versuch, die Welt realistisch zu beschreiben. Unser Präsident Joybrato Mukherjee sagte in einem Interview, es gehe um eine Außenwissenschaftsrealpolitik, die ehrlich reflektieren muss, was wir früher von Wissenschaftsdiplomatie erwartet haben und wie wir sie in Zukunft betrachten sollten. Wir müssen uns von der naiven Vorstellung lösen, dass wissenschaftliche Kooperation und Austausch automatisch und immer zu mehr und besserer Verständigung und der Verbreitung westlicher Werte führen. Das ist vorbei und es braucht einen neuen Ansatz für diese unsicheren Zeiten.
In dem Papier wird festgehalten, dass Wissenschaftsdiplomatie wertebewusst, verantwortungsbasiert, interessengeleitet, regional differenziert und risikoreflexiv sein sollte. Was ist mit diesen Punkten genau gemeint?
Wir möchten mit dem Papier eine Debatte darüber anregen, dass sich eine Außenwissenschaftsrealpolitik in dieser neuen Weltunordnung ihrer eigenen Interessen bewusst werden muss. Wissenschaftsfreiheit und akademische, westliche Werte sind wichtig. Wir müssen uns bewusst sein, dass wir Träger*innen dieser Werte sind und diese Werte in Kooperationen und auch im Dialog mit schwierigen Partner*innen vertreten sollten. Dabei können wir uns nicht wegducken, auch wenn die Kooperationen herausfordernder werden. Wir leben im Anthropozän, einem Zeitalter, in dem wir als Mensch zum bestimmenden Faktor der weltweiten Entwicklung geworden sind. Damit haben wir die Verantwortung, das Ökosystem unserer Welt zu erhalten, um unseren Nachfahren eine intakte oder zumindest erträgliche Welt zu hinterlassen. Das heißt auch, dass wir mit möglichst vielen Ländern, auch herausfordernden Partnern, weiterhin zusammenarbeiten müssen. Wir können beispielsweise im Klimaschutz wenig erreichen, wenn wir beschließen, nur noch mit den Ländern der Europäischen Union zu kooperieren.
Forschende und Studierende sollen diese demokratischen Werte im Austausch vertreten. Was bedeutet dies konkret für Wissenschaftler*innen und Studierende?
Die Forschenden, gerade auch auf Leitungsebene, sollten im Austausch mit anderen Wissenschaftler*innen und besonders bei institutionellen Kooperationen über Wissenschaftsfreiheit und auch konfliktbehaftete Themen sprechen und diskutieren – ohne zu glauben, dass das Ansprechen und Verhandeln darüber direkt Dinge in der Welt verändert. Bei Studierenden würde ich abschichten: Wenn sie ihr Wertebewusstsein für Demokratie und Wissenschaftsfreiheit als positives Gepäck betrachten, dass sie mit in die Welt nehmen und sich in Gesprächen darüber austauschen, dann ist das sicherlich schon ein guter Schritt.
Wissenschaftsdiplomatie sei laut dem Positionspapier nicht altruistisch, sondern interessengeleitet. Warum ist es wichtig, diesen Punkt hervorzuheben?
Wir möchten mit dem Papier anregen, dass sich Hochschulen im Austausch und in Kooperationsprojekten vorab klarmachen, was ihre jeweiligen Interessen sind und wie diese erreicht werden können. Das kann man am Beispiel China erklären. China ist wissenschaftlich in manchen Bereichen weltweit an der Spitze angelangt, wenn nicht führend. Deutschland hat natürlich als Land ohne Rohstoffe ein Interesse daran, durch Kooperationen mit solchen wissenschaftlichen Spitzenreitern in Kontakt zu bleiben. Wie man diese gestaltet, ist eine zweite Frage.
Bis zu welchem Punkt funktioniert Wissenschaftsdiplomatie mit schwierigen Ländern und ab welchem Kipppunkt funktioniert sie nicht mehr?
Bei diesem Punkt muss man realistisch sein. Wenn ein Land wie Russland völkerrechtswidrig ein anderes Land überfällt mit dem Ziel, diesen Staat auszulöschen, ist das ein Kipppunkt. Und dann kann eine institutionelle Kooperation – und die deutschen Hochschulen haben sich hier sehr klar positioniert – nicht mehr aufrechterhalten werden. Das ist aber nicht die Regel. Zumindest auf europäischer Ebene betrachtet, ist es eine singuläre Situation. Bei allen anderen Ländern müssen wir in Prozesse des Aushandelns gehen, in dem wir einen langen Atem behalten und auch herausfordernde Themen gemeinsam bearbeiten. Es gibt immer wieder Länder, in denen es temporär nicht möglich ist, wissenschaftliche Zusammenarbeit zu pflegen, etwa weil die Sicherheitslage es nicht zulässt, wie beispielsweise in Afghanistan. Hier können dann mitunter Schutzprogramme für geflüchtete und gefährdete Studierende und Wissenschaftler*innen das am besten geeignete Instrument der Wissenschaftsdiplomatie bilden.
Herr Mukherjee sagte im Interview, dass sich diese Ziele nur umsetzen lassen, wenn eine „stabile Finanzierung auch in Zukunft gesichert ist“. Im Juli kam die Meldung, dass die Finanzierung über das Auswärtige Amt vermutlich stark gekürzt wird. Wie ist der aktuelle Stand?
Es gibt sehr gute Nachrichten, was die DAAD-Grundfinanzierung über das Auswärtige Amt (AA) angeht: Wir erhalten im kommenden Jahr statt den erwarteten Kürzungen nun rund 31 Millionen mehr und können uns mit einem AA-Budget von 222 Millionen Euro um akademischen Austausch und Wissenschaftsdiplomatie kümmern. Zugleich hat der Haushaushaltsausschuss des Bundestages darum gebeten, dass wir weiterhin die Unterstützung für Studierende und Wissenschaftler*innen aus der Ukraine und für Akademiker*innen aus dem Iran in den Blick nehmen.
Vorausgesetzt, dieser Krieg endet. Wie könnten erste Annäherungsversuche mit Russland wissenschaftsdiplomatisch aussehen?
Aktuell kann es aufgrund des Kriegs in der Ukraine keine institutionellen Kooperationen mit Russland geben. Nur Studierende aus Russland können und sollen weiterhin nach Deutschland kommen und können sich auch weiterhin auf Stipendien des DAAD bewerben. Zugleich: Irgendwann wird dieser Krieg vorbei sein, irgendwann wird hoffentlich auch Putin nicht mehr an der Macht sein. Dann kann wissenschaftlicher Austausch wieder ein erster Eisbrecher sein, um Vertrauen wiederherzustellen. Individuelle Kooperationen von Wissenschaftler*innen können eine Vorreiterposition in dieser Annäherung einnehmen, wo andere Stellen noch gar nicht handeln können, wollen oder manchmal auch nicht sollen.
Wissenschaftliche Kooperationen können dazu dienen, nach einer Rückkehr zum Völkerrecht, einer Beendigung dieses rechtswidrigen Krieges und unter Wiederherstellung der Souveränität der Ukraine Russland wieder international einzubinden.
Wenn wir an den Punkt der Verantwortungsorientierung denken, haben wir ein Interesse daran, denn im Kampf gegen den Klimawandel ist auf Dauer ohne Russland nicht viel zu erreichen.