Nicht nur Forschung erklären, sondern sie auch hinterfragen und kritisch einordnen: Das sei laut dem Journalisten Marcus Anhäuser Aufgabe und Ziel von Wissenschaftsjournalismus. Mit seinem Gastbeitrag reagiert er auf eine Twitter-Debatte, die der Virologe Hendrick Streeck vergangene Woche entfachte.
Das ist der „Journalismus“ in Wissenschaftsjournalismus
„Was erlauben Strunz!“ An diesen legendären Ausruf des ehemaligen Bayern Trainers Giovanni Trappatoni musste ich denken, als ich im Twitter-Beef der vergangenen Woche die Äußerungen der Corona-Wissenschaftler Hendrik Streeck von der Universität Bonn und Jonas Schmidt-Chanasit vom Bernhard-Nocht Institut in Hamburg auf dem sozialen Netzwerk aufschnappte. Der bekannte Virologe hatte seinen Unmut über einen kritischen Artikel der Süddeutschen Zeitung geäußert:
„Geleakte Arbeitsentwürfe durch anonyme Kritiker kritisieren zu lassen – so funktioniert Politik, aber dass Wissenschaftsjournalismus bei der @SZ so agiert, ist immer noch erstaunlich für mich.“
Virologen-Kollege Chanasit sprang ihm zur Seite, um gleich mal eine geographische Verortung der Qualität des Artikels vorzunehmen: „@hendrikstreeck @SZ Ein absoluter Tiefpunkt der #Wissenschaftskommunikation. Das schadet dem ansonsten guten Wissenschaftsjournalismus in Deutschland. #wisskomm @WissRat @wisskomm_de“.
Was war passiert? Die Wissenschaftsjournalistin und langjährige SZ-Redakteurin Christina Berndt hatte am Mittwoch in der Süddeutschen Zeitung im Politikteil auf Seite 5 ausführlich berichtet, dass es erhebliche Zweifel an den Methoden und damit den Ergebnissen des Sachverständigenausschusses der Bundesregierung gibt. Das 18-köpfige Gremium soll evaluieren, ob die Maßnahmen während der Coronapandemie („Masken, Ausgangssperren, 3-G“) etwas gebracht haben oder nicht.
Ein absoluter Tiefpunkt der #Wissenschaftskommunikation . Das schadet dem ansonsten guten Wissenschaftsjournalismus in Deutschland. #wisskomm @WissRat @wisskomm_de
— Jonas Schmidt-Chanasit (@ChanasitJonas) June 7, 2022
Berndt hatte einen Entwurf des Berichts einsehen können, der erst für Ende Juni erwartet wird und berichtet, dass er „in Fachkreisen bereits verrissen“ werde. Das Kapitel zu den Coronamaßnahmen im Bericht sei „handwerklich schlecht gemacht, die Auswahl und Kommentierung der wissenschaftlichen Literatur sei einseitig, negative Folgen der Interventionen würden überbetont; hier solle nur eine vorgefasste negative Meinung zu den Coronamaßnahmen Bestätigung finden“, zitiert Berndt nicht näher bezeichnete Quellen aus der Virologie und Epidemiologie. Konkrete Kritik präsentiert sie dann vom Ausschussvorsitzenden selbst, dem Juraprofessor Stefan Huster, der gegenüber der SZ erklärt: „Für die Evaluation der einzelnen Maßnahmen war die Kommission von Anfang an zu dünn aufgestellt.“ Es folgen fünf Absätze konkreter inhaltlicher Vorwürfe, die unterstreichen sollen, wie fehlerhaft und voreingenommen gearbeitet wurde: seltsame Ländervergleiche bei der Lebenserwartung, willkürliche Studienauswahl, einschlägige Studien seien weggelassen oder mitunter falsch wiedergegeben worden.
Da kann man schon verstehen, dass ein Wissenschaftler wie Streeck, der selbst im Gremium sitzt und das Kapitel zu den Coronamaßnahmen verantwortet, verschnupft reagiert.
Dass Streeck und dann vor allem Chanasit (der nicht im Sachverständigenrat sitzt), statt auf die Vorwürfe einzugehen, damit ablenken, es handle sich um schlechten Wissenschaftsjournalismus, ist indes wohlfeil und offenbart bei beiden lediglich das nach wie vor vorherrschende Missverständnis, Wissenschaftsjournalismus sei irgendwie mit der Wissenschaft „befreundet“ und hätte lediglich die Aufgabe, Forschungsergebnisse den breiten Massen verständlich zu machen.
SZ-Autorin Berndt hat in den letzte zwei Pandemiejahren selbst zahllose Beispiele für diesen vermeintlich „genehmen“ Wissenschaftsjournalismus geliefert, in Corona-Artikeln und Videos ebenso wie in Talkshows und Radiosendungen, in denen sie unermüdlich und geduldig die oft komplexen wissenschaftlichen Zusammenhänge in der Pandemie erklärte und zugleich die „Wissenschaft“ gegen deren Feinde aus den Kreisen der Coronaleugner*innen und Pandemieskeptiker*innen verteidigte. Dafür wurde sie völlig zurecht vom Medium Magazin zur „Wissenschaftsjournalistin des Jahres 2021“ und im Jahr zuvor auf Platz 2 gewählt.
Aber zur Jobbeschreibung einer Wissenschaftsjournalistin gehört es eben nicht nur, die „Wissenschaft“ gegen ihre Feinde zu verteidigen und den berühmt-berüchtigten „Erklärbär“ zu geben.
Zum Job gehört auch, die kritische Distanz und Betrachtung eben dieses Systems, das Beobachten und das auf Missstände hinweisen, wenn etwas schief läuft im Namen der Wissenschaft. Eben das, was Journalist*innen machen, wenn sie ihren Job ernst nehmen, nicht nur in der Forschung, sondern in allen Bereichen, egal ob Politik, Wirtschaft, Kultur und Sport. Da muss man nicht mal die vielzitierte Aussage bemühen, wonach Journalismus das ans Licht bringt, von dem andere nicht wollen, dass es veröffentlicht wird. Alles andere sei PR.
Dass Streeck „erstaunt“ ist (um nicht verärgert schreiben zu müssen), dass Wissenschaftsjournalismus sich der Methoden bedient, die er nur in der „Politik“ verortet („geleakte Arbeitspapiere“, „anonyme Kritiker“), zeugt von einer eigenartigen Vorstellung von der Welt des Journalismus. Als wäre der Wissenschaftsjournalismus irgendwie abgetrennt vom System des Journalismus. Und es hat auch ein ironisches Moment, wenn ausgerechnet der Bonner Virologe sich über vorzeitige Berichterstattung mokiert, wo doch gerade Streeck gleich zu Beginn der Coronapandemie durch seine „Heinsberg-Studie“ bekannt wurde, deren Ergebnisse er lange vor der Veröffentlichung des zugehörigen Fachartikels auf einer Pressekonferenz im Beisein des damaligen Ministerpräsidenten Armin Laschet präsentierte, weil die Politik sie gerade benötigte.
Natürlich gibt es Unterschiede in der Berichterstattung über Politik und Wissenschaft, das hängt schon am Berichtsgegenstand. Gerade die Pandemie hat so einige davon erneut ins Bewusstsein gehoben, meist dann, wenn Politik- aber auch Feuilletonjournalist*innen sich ihres bewährten „he said – she said“-Formats bedienten und so jeder noch so faktenbefreiten Meinung Platz einräumten und in die „False Balance“-Falle tappten, wie es die Jahre zuvor schon beim Thema Klimawandel passiert war.
Dass aber das Veröffentlichen von Papieren, die eigentlich (noch) unter Verschluss bleiben sollten, nicht zum Werkzeugkasten der Wissenschaftsjournalist*innen gehören sollte, wäre eine neue Erkenntnis. Klar, es ist gängige Praxis, dass Wissenschaftsjournalist*innen über Studien- und Forschungsergebnisse berichten und dabei brav den Veröffentlichungsgesetzen der Fachjournale folgen (Stichwort: Embargo), was außerhalb des Wissenschaftsjournalismus gelegentlich zu Irritationen führt. Doch in diesem Fall geht es ja nicht um irgendein Feld-, Wald- und Wiesen-Ergebnis, das einen normalen Publikationszyklus mit anschließender Begutachtung („Peer Review“) durchläuft. Es geht um einen Report aus einem von der Politik eingesetzten Gremium, aus dem unmittelbar politische Entscheidungen folgen werden, mit Konsequenzen für uns alle im Herbst und Winter. Wenn dann aber droht, dass ein solch wichtiges Organ wie der Sachverständigenausschuss zur Beurteilung der Coronamaßnahmen keine gute Arbeit abliefern wird, dann ist das ganz sicher relevant genug, dass Medien das frühzeitig thematisieren müssen. Und nicht erst, wenn der Bericht zusammengestellt und veröffentlicht ist.
Wenn selbst der Ausschussvorsitzende zugibt, dass der Ausschuss zu klein ist, um seine Arbeit zu machen, gibt es ganz offensichtlich ein Problem. Wirklich überraschen kann dies indes nicht, denn es war ein anderes Mitglied des Ausschusses, das durch seinen frühzeitigen Rückzug den Blick darauf lenkte. Christian Drosten war zu der Überzeugung gelangt, dass „Ausstattung und Zusammensetzung nicht ausreichten, um eine wissenschaftlich hochwertige Evaluierung gewährleisten zu können“.
Es ist inzwischen lange Tradition, Wissenschaftsjournalismus vorzuwerfen, dass er Wissenschaft nur erklärt, aber nicht kritisiert, weil er zu nah dran sei (siehe etwa auch zuletzt die Diskussion um die Lab-Leak-These). Dass es im Wissenschaftsjournalismus eben zu viel „Wissenschaft“ und zu wenig „Journalismus“ gebe. Tatsächlich gehört beides dazu: Fundierte Kritik ist tatsächlich nur möglich, wenn man das, was man kritisiert, auch verstanden hat und anderen erklären kann.
Es ist zwar völlig in Ordnung und geradezu notwendig, schlechten Journalismus über Wissenschaft anzuprangern, man denke nur an die unsäglichen Kampagnen gegen Drostens Schulkinder-Studie oder die „Lockdown-Macher“, beides nicht zufällig Fehltritte der BILD-Zeitung oder die unkritischen Berichte über die Linksammlungs-Studie des Hamburger Nanoforschers Roland Wiesendanger zur These, dass das Corona-Virus aus dem Labor in Wuhan stammt.
Aber es ist nicht der Journalismus das Problem, wenn vorab über einen Report berichtet wird, der Konsequenzen für das ganze Land hat. Das Problem liegt ganz klar aufseiten von Wissenschaft und Politik, die einen solchen Report unter offenbar fragwürdigen Bedingungen erstellen (lassen), und durch das Label „Wissenschaft“ auf das Vertrauen in der Bevölkerung setzen, dieses Vertrauen damit aber zugleich auch aufs Spiel setzen.
Man muss es wohl einfach immer noch viel öfter erklären als bisher: Wissenschaftsjournalismus ist nicht der verlängerte Kommunikationsarm von Wissenschaft und Forschung. Auch wenn das viele in Wissenschaft und Forschung immer noch nicht wirklich begriffen haben. Der Artikel in der SZ ist kein „Tiefpunkt“ der Wissenschaftskommunikation, sondern ein Beispiel für ureigenstes Handwerk im Wissenschaftsjournalismus.
Transparenzhinweis: Der Autor kennt Christina Berndt persönlich. Sie hat als SZ-Redakteurin in den 2000er Jahren immer wieder seine Artikel für das SZ-Wissensressort redaktionell betreut.
Gastbeiträge spiegeln nicht zwangsläufig die Meinung unserer Redaktion wider.
Zum Weiterlesen
- Die Kommunikationskampagne um die Heinsberg-Studie gab Anlass für eine Besprechung der ethischen Richtlinien in der Wissenschaftskommunikation. In einer Kommentarreihe ordnen Praktiker*innen des Feldes die Geschehnisse ein: Beatrice Lugger* kommentiert die unsaubere Trennung von Interessen und politischem Agendasetting. Nicola Wessinghage schreibt über die Lehren für die Wissenschaftskommunikation. Philipp Schrögel und Tamara Heck blicken aus Sicht von Open Science auf die Vorgänge und beschreiben die Fallstricke der (vor)schnellen Veröffentlichung von Forschungsergebnissen. Markus Weißkopf* beleuchtet die Rolle der institutionellen Wissenschaftskommunikation im Falle der Heinsberg-Studie.
- Eine angebliche Studie zum Ursprung des Corona-Virus der Universität Hamburg sorgte nicht nur für Kritik auf inhaltlicher und formaler Ebene, sondern auch an der Art und Weise der Kommunikation. Eine Einschätzung der Hochschule und von Akteur*innen aus der Wissenschaftskommunikation zum „Fall Wiesendanger“.
- Die Kooperation der École Polytechnique Fédérale de Lausanne (EPFL) mit Blick Romandie ist umstritten. Die Hochschule stellt der Schweizer Tageszeitung der Artikel aus der Kommunikationsarbeit zur freien Verwendung zur Verfügung. Der Pressesprecher der Hochschule, Mirko Bischofberger, hat dazu schriftlich* Fragen beantwortet. Franco Zotta, Geschäftsführer der Wissenschaftspressekonferenz, fasst die Kritik aus Sicht des Wissenschaftsjournalismus im Interview zusammen.