Bild: Freepik

Darum braucht die Wissenschaftskommunikation mehr als Erklärvideos

Christian Spannagel hat mehr als 117.000 Abonnent*innen auf YouTube, seine Mathematikvideos wurden über zwei Millionen Mal angesehen. Trotz dieser Erfolge reicht ihm die Plattform nicht mehr. In seinem Gastbeitrag erzählt er, wie Twitch und Discord die Wissenschaftskommunikation umkrempeln können.

Viele Menschen haben in ihrer Schulzeit schlechte Erfahrungen im Fach Mathematik gemacht. Dies wirkt sich mitunter auf ihr komplettes Leben aus, weil sie denken, dass sie „zu doof für Mahe“ sind. Das stimmt natürlich nicht: Die schlechten Erfahrungen wurden oft nicht mit der Mathematik gemacht, sondern mit dem Mathematikunterricht. Vor diesem Hintergrund ist es umso erstaunlicher, dass sich manche dennoch in ihrem späteren Leben für Mathematik interessieren. Im Internet finden sie „Stoff“, mit dem sie sich befassen können, wie etwa auf meinem YouTube-Kanal.

Den YouTube-Kanal habe ich im Jahr 2010 gegründet, ursprünglich um meine Mathematik-Lehramtsstudierenden mit Vorlesungsvideos zu versorgen. Ich entschied mich damals für die Plattform YouTube, weil ich diese Videos auch Menschen außerhalb der Hochschule als freie Bildungsmedien (open educational resources) zur Verfügung stellen wollte. Und damit hatte ich unerwartet Erfolg: Mittlerweile hat der Kanal über 117.000 Abonnent*innen, und manche Videos wurden mehr als 2 Millionen Mal angesehen.

„Ich möchte ihnen Erfolgserlebnisse vermitteln und dadurch mehr Selbstvertrauen in Mathematik geben.“ Christian Spannagel

Von Erklärvideos zu interaktiven Formaten

Vor ein paar Monaten habe ich beschlossen, dass mir das nicht mehr reicht. Ich würde gerne den Menschen die Möglichkeit bieten, Mathematik nicht nur anhand von Erklärvideos zu verstehen, sondern selbst praktische Erfahrungen zu machen. Ich möchte gerne eine Umgebung bieten, in der an Mathematik interessierte Personen mit mir und anderen gemeinsam Probleme lösen. Ich möchte ihnen Erfolgserlebnisse vermitteln und dadurch mehr Selbstvertrauen in Mathematik geben. Ich möchte ihnen zeigen, dass ihre Ideen zu einer mathematischen Problemlösung wertvoll sind, und vermitteln, dass die Wissenschaft Mathematik anders ist als das Bild, das sie vielleicht in der Schule gewonnen haben. Dafür ist YouTube aber zu wenig interaktiv, zu unidirektional. Auch wenn die Möglichkeit für Diskussionen in den Kommentarbereichen besteht – die Lösungen werden im Video bereits präsentiert.

Markus Pössel hat vor kurzem anhand eines Videos von MaiLab argumentiert, dass Wissenschaftskommunikation auf YouTube deutlich weniger interaktiv sein kann als ein klassischer Präsenzvortrag, – wenn man die Diskussionsbeiträge in Relation zur Anzahl der Zuschauer*innen setzt. Insbesondere kritisiert er, dass fachliche Rückfragen in Kommentaren nicht in befriedigendem Umfang von der Youtuberin beantwortet werden, die Chance für echte inhaltliche Interaktion also nicht genutzt wird. Markus Pössel schließt daraus, dass moderne Wissenschaftskommunikation nicht unbedingt interaktiv sein muss. Markus Pössel hat Recht damit, dass sie nicht interaktiv sein muss, aber das bedeutet natürlich nicht, dass man nicht versuchen kann, interaktivere Formate umzusetzen.

Gemeinsames Problemlösen als Lehrmethode

Mathematik ist nicht nur Inhalt, sondern insbesondere auch Prozess. So sollten Studierende in der Hochschule beispielsweise nicht nur Beweise (auswendig) lernen, sondern verstehen, wie man selbst Beweise durchführt. Mit diesem Anspruch gehe ich Wissenschaftskommunikation an. Ich möchte den Zuschauer*innen nicht fertige Problemlösungen vorsetzen, sondern mit ihnen gemeinsam Aufgaben lösen und thematisieren, welche Strategien man dabei einsetzt. Man könnte sagen: In klassischen Wissenschaftsvorträgen und auch in YouTube-Videos wird das Hochschul-Lehrformat der Vorlesung umgesetzt. Ich hingegen möchte das Tutorium in der Wissenschaftskommunikation realisieren und damit vermitteln, wie Mathematiker*innen arbeiten (und nicht nur „fertige Mathematik“ vorsetzen).

Genau wie im Tutorium sollen Teilnehmer*innen unterschiedliche Ideen zu einem mathematischen Problem einbringen können. Oft gibt es mehrere Lösungsansätze. Wenn man diese verschiedenen Ansätze gemeinsam durcharbeitet und gegenüberstellt, dann kann das ein echter Mehrwert für alle sein. Es führt dann auch dazu, dass ich selbst Neues lernen kann, weil ich auf Ansätze stoße, denen ich bislang nicht begegnet bin. Wissen fließt also nicht nur „aus der Wissenschaft in Richtung Gesellschaft“, sondern auch umgekehrt – das ist bidirektionaler Wissenstransfer.

Die Rolle von Twitch in der Wissenschaftskommunikation

Für das gemeinsame Arbeiten benötigt man eine Plattform, auf der synchrone Kommunikation möglich ist. Ich habe mich für Twitch entschieden, ein Videostreaming-Dienst, auf der überwiegend Gaming-Content geteilt wird. Es gibt bislang vergleichsweise sehr wenige wissenschaftliche Kanäle wie etwa den Kanal von Mathias Magdowski. Zu jedem Videostream auf Twitch gibt es einen Text-Chat, in dem sich die Zuschauer*innen äußern können. Die Person, die den Stream durchführt, kann dann die Kommentare der Zuschauer*innen live im Stream aufgreifen. Zu Twitch-Kanälen bilden sich oft Communities, die sich die Streams regelmäßig anschauen und über den Chat interagieren.

Ich nutze Twitch auf zwei Arten: Zum einen streame ich gelegentlich von zu Hause aus. Ich bringe dann ein paar interessante mathematische Probleme mit, welche die Teilnehmer*innen gemeinsam mit mir lösen. Nach ein wenig Smalltalk („Was habt ihr heute Schönes gemacht?“) stelle ich die erste Aufgabe. Ich löse sie dann aber nicht, sondern frage in der Runde, wer eine Idee hat. Es kommen dann Beiträge im Chat, die ich sukzessive aufgreife und so die Lösung entwickle. Ich bin dabei sozusagen ein Experte, der über den Chat „ferngesteuert“ wird.

Stream aus dem Home Office. Bild: Christian Spannagel

Zum anderen streame ich direkt aus dem Hörsaal.  Ich verwende ein hybrides Format mit dem Vorteil, dass die Studierenden auch von zu Hause aus an der Präsenzveranstaltung teilnehmen können. Darüber hinaus können so auch an Mathematik interessierte Menschen an der Vorlesung partizipieren. Ich versuche dabei, Beiträge im Chat in die Diskussion aufzunehmen. Und weil ich den Chat im Hörsaal nicht permanent im Blick haben kann, werde ich dabei von einer studentischen Mitarbeiterin unterstützt, die den Chat moderiert.

Stream aus dem Hörsaal. Bild: Christian Spannagel

Die Videostreams bleiben einige Zeit auf Twitch verfügbar, sodass sich Personen diese auch nachträglich ansehen können – dann allerdings ohne Interaktionsmöglichkeit. Ich stelle Ausschnitte aus meinen Streams zusätzlich auf meinem YouTube-Kanal zur Verfügung, um auch die Abonnent*innen dort zu erreichen und weitere Diskussionen in den Kommentaren zu ermöglichen, an denen ich mich beteilige.

Zwischen den Streams: Die Bedeutung von Discord

Zwischen den Streams, die in meinem Fall unregelmäßig stattfinden, muss der Community ein weiterer Interaktionsraum geboten werden, etwa um Themen aus den Streams weiter zu diskutieren oder gemeinsam neue Themen zu generieren, die zum Gegenstand zukünftiger Streams gemacht werden können. Hierfür habe ich die Chat-Plattform Discord gewählt, nach dem Vorbild vieler Twitch-Kanäle, die eigene Discord-Communities haben. Auf Discord können asynchron und synchron  – also zeitgleich und zeitversetzt – Text- und Sprachnachrichten austauscht werden. Strukturiert wird der Austausch in Kanälen und Threads. Auf meinem Discord-Server gibt es zum Beispiel unter anderem die Kanäle „mathe-talk“ und „higher-math“ für Diskussionen auf unterschiedlichem Niveau und die Kanäle „algebra“, „geometrie“ und „stochastik“ für den themenspezifischen Austausch. Darüber hinaus haben wir Sprachkanäle eingerichtet, die während Live-Streams auf Twitch als Breakout-Räume fungieren, sodass die Online-Teilnehmer*innen dort auch in Kleingruppen an mathematischen Aufgaben tüfteln können.

„Lasst uns gemeinsam interaktive Formate im Netz weiterentwickeln!“ Christian Spannagel

Zukunftspläne

Mein Twitch-Kanal hat mittlerweile 850 Abonnent*innen, der Discord-Server hat 420 Mitglieder – Tendenz steigend. Die Rückmeldungen sowohl aus der Community als auch von Kolleg*innen sind bislang überwiegend positiv. Für konstruktives Feedback gibt es in Discord einen eigenen Channel, in dem hin und wieder Verbesserungsvorschläge gepostet werden. Ich plane nun, meine Aktivitäten auf diesen Plattformen auszubauen und mit verschiedenen Interaktivitätsformaten zu experimentieren. Da dies aufwändig ist, baue ich mir nun ein Team von studentischen Hilfskräften auf, die mich in verschiedenen Bereichen unterstützen (Community Management, Video Cutting, Social Media Production, Content Management und Platform Administration). Darüber hinaus freue ich mich über professionellen Austausch mit Wissenschaftler*innen, die ähnliche Ansätze verfolgen. Lasst uns gemeinsam interaktive Formate im Netz weiterentwickeln!

Die redaktionelle Verantwortung für diesen Gastbeitrag lag bei Anna Henschel. Gastbeiträge spiegeln nicht zwangsläufig die Meinung unserer Redaktion wider.