„Die Wissenschaft braucht besseres Storytelling und mehr Co-Design von Videos.“
Filmemacherin und Forscherin Jeanine Reutemann plädiert dafür, Video als zentrales Medium in der Wissenschaft anzuerkennen. Ein Gespräch über die Tücken und Chancen des Mediums und warum es viel mehr Co-Kreation durch Wissenschaftler*innen und Filmexpert*innen braucht.
Anne Weißschädel war Redakteurin des Portals Wissenschaftskommunikation.de. Die studierte Kultur- & Medienmanagerin und Romanistin interessiert sich für Trends, Mechanismen und Best Practices der Wissensvermittlung – vor allem über digitale Kanäle. Sie ist bei Wissenschaft im Dialog tätig.
Video ist ein zentrales Medium der heutigen Kommunikation und darum auch für die Wissenschaftskommunikation sehr wichtig. In der Videowelt, wie bei Youtube und Co, stehen die Inhalte aber in direkter Konkurrenz zu Produkten von professionellen Medienleuten, die oft mit einem ganz anderen Ansatz produzieren, als Wissenschaftler*innen das tun. In meiner Video-Keynote habe ich daher verschiedene Perspektiven eingenommen und repräsentiere eine Wissenschaftlerin, eine Filmemacherin und eine Aktivistin, die miteinander die Potenziale und Risiken des Formats diskutieren. Dabei geht es mir zum Beispiel darum, dass Prozesse der Wissenschaft besser sichtbar gemacht werden sollten, und transparenter zu werden. Gerade in den Debatten rund um Corona sehen wir derzeit, dass es hier viel Nachholbedarf gibt.
Worin zeigt sich das genau?
„Die Wissenschaft weiß gar nichts“, ist eine Aussage, die man im Zusammenhang mit Corona in Kommentaren oder Gesprächen immer wieder hört und liest. Das liegt daran, dass hier seit Monaten öffentlich über einen laufenden Forschungsprozess diskutiert wird. Diese Diskussionen über Forschungsstände, Thesen, Unsicherheiten und Revisionen bei neuen Erkenntnissen sind in der Wissenschaft ganz normal. In der Öffentlichkeit kommen sie aber offensichtlich kaum an und deshalb rufen diese Prozesse jetzt so viel Verwunderung hervor. Es braucht hier eine Normalisierung der Kommunikation von den Prozessen und nicht nur den Ergebnissen der Wissenschaft.
Warum sind Videos besonders gut geeignet, um diese Lücke zu schließen?
Video ist Teamarbeit und bringt so immer verschiedene Perspektiven auf ein Thema zusammen. Im Fall der Wissenschaftskommunikation kommen also im Idealfall Leute aus den Wissenschaften zusammen mit Leuten aus Medien und Design. Diese Gruppen nutzen für ihre Arbeit ganz unterschiedliche Sprachen und müssen sich darum schon in der Zusammenarbeit auf eine neue Art der Kommunikation einlassen. Wenn aber ein gegenseitiges Interesse und eine Offenheit da sind, kann eine sehr fruchtbare Zusammenarbeit entstehen. Das vereinfacht dann wiederum, sich auf eine weitere zentrale Gruppe einzulassen, die jeweilige Zielgruppe. Das ist ein weiterer wichtiger Punkt meiner Keynote, denn damit haben wir zurzeit noch ein größeres Problem. Die Zielgruppen werden mit den bisherigen Formaten der Wissenschaftskommunikation im Video kaum erreicht.
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Warum funktioniert Wissenschaftskommunikation im Video bisher nicht gut?
Eine aktuelle Studie zu verschiedenen Wissenschaftsformaten auf Youtube zeigt, dass die Formate, die Forschungsinstitutionen für ihre Kommunikation bevorzugen, das Publikum nicht so gut erreichen wie andere. Hier ist es wichtig, genau reinzuschauen, warum das so ist und ob man die eigenen Formate nicht entsprechend verändern könnte. Außerdem sollte dem Format Video in der akademischen Welt ein höherer Stellenwert eingeräumt werden. Die schriftliche wissenschaftliche Publikation ist bisher das zentrale Medium. Video aber bleibt umstritten.
Warum ist das so?
„Wie kann Video formal den Stellenwert einer wissenschaftlichen Publikation erreichen, zum Beispiel durch Standards oder Peer Review?“Jeanine Reutemann
Weil sich das Format immer an der schriftlichen wissenschaftlichen Publikation messen lassen muss – also an den Maßstäben einer anderen Sprache mit ganz anderen und sehr detailliert definierten Qualitätskriterien. Video als Kommunikationsform wirkt daher fast wie eine Bedrohung, weil viele Fragen nicht geklärt sind. Diesen großen Diskurs kennen wir seit den Anfängen des Wissenschaftsfilms in den frühen 1920er-Jahren. Wie kann Video formal den Stellenwert einer wissenschaftlichen Publikation erreichen, zum Beispiel durch Standards oder Peer Review? Diese Diskussion müssen wir führen und das fordere ich auch in meiner Keynote. Wir müssen eine Community gründen, die Video als Publikationsformat in der Wissenschaft etabliert und gemeinsam erarbeitet, wie das funktionieren kann.
Wo kann man hier ansetzen, um das anzugehen?
Bei den Kompetenzen der beteiligten Personen. Oft wird ja zuerst in teures Studioequipment investiert und dann werden 4K-Videos in einem steifen Setting gedreht. Das kann sogar gestandene Professor*innen, die sonst vor hunderten Studierenden im Hörsaal sprechen, einschüchtern. Das habe ich selbst in einer Studie zu MOOCs analysiert und mein Fazit: Es reicht meist schon eine gute Handykamera, um ein gutes Bild zu machen. Viel wichtiger ist es, mit den Beteiligten zusammenzuarbeiten, um ihr Thema visuell zu erzählen. Emotionale und kreative Ressourcen und auch Zeit sind hier viel wichtiger.
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Diese Art, filmisch zu denken, kann man außerdem schon den Studierenden mitgeben. Die lernen ja auch in den ersten Semestern die Regeln des wissenschaftlichen Schreibens kennen, um sich überhaupt in der Wissenschaftswelt zurechtzufinden. Gleichzeitig haben die Studierenden aber einen ganz anderen Zugang zum Thema Video und bringen hier zum Teil sogar schon selbst Erfahrung mit dem Format mit. Da könnte man ansetzen, um die Themen Forschung, Lehre und Video miteinander zu verknüpfen, zum Beispiel indem man ihnen gleich Kenntnisse im Mediendesign mit gibt.
Das heißt, Sie wünschen sich Videokurse schon im Grundstudium?
„Im Vordergrund war immerzu der medienkritische Umgang mit Audio und Video.“Jeanine Reutemann
Ein „Videokurs“ wäre zumindest ein Ansatz und solche Formate gibt es an einigen Hochschulen bereits als Zusatzfach. Das Problem ist, dass unter diesem Begriff zumeist nur die technischen Produktionsprozesse des Filmens gelehrt werden, natürlich anhand eines Fallbeispiels. Aber solche Techniken kann man sich ebenso mit Youtube-Tutorials aneignen. Ich habe beispielsweise vor zwei Jahren in einem Seminar zum Thema „Audiovisual Data in the Digital World“ unterrichtet und der Leistungsnachweis war ein Filmprojekt zu einem der Subthemen des Kurses, zum Beispiel zu Deepfake-Videos, Fake News oder sensitiven Daten in virtueller Realität. Die interdisziplinäre nStudierenden der Leiden University, TU Delft und Rotterdam Erasmus Universität mussten audiovisuelle Produkte filmanalytisch erforschen. Wir haben über die ästhetische Machart von politischen Videos diskutiert, Bild für Bild Deepfake-Videos analysiert, Datenvisualisierungen in Videos auf ihre Wirkung angeschaut und so weiter. Im Vordergrund war immerzu der medienkritische Umgang mit Audio und Video. Alle praktischen Videoskills mussten sie sich selbst online erarbeiten und im reflektierten Praktizieren der Filmproduktion durch die Fehler lernen.
Mir geht es also vielmehr darum, dass Nachwuchswissenschaftlerin*innen Bewegtbilder als eine andere Sprache sehen und anwenden lernen. Wenn die Studierenden damit umgehen können, bietet das gleich ganz andere Möglichkeiten für eine neue Sprache der Wissenschaft. Man denke nur an die Möglichkeiten, die das Medium für das wissenschaftliche Arbeiten bietet, bis hin zu Promotionen im Videoformat. Das wäre doch interessant und es gibt schon seit längerem Felder der Wissenschaft, in denen hier schon experimentiert wird. Um das weiterzubringen, muss es aber auch entsprechende Richtlinien geben, die zum Beispiel Video als Publikationsform akzeptieren. Solche Experimente verändern die Herangehensweise an das Format und wie man Video denkt und bieten eine große Chance.
Warum wird diese Chance so selten ergriffen?
„Manche Wissenschaftler*innen haben vielleicht auch schlechte Erfahrungen mit Produktionen gemacht, in denen sie mitgewirkt haben, aber wenig Kontrolle hatten.“Jeanine Reutemann
Das liegt an verschiedenen Missverständnissen. Neue Medien hatten es ja immer etwas schwer, sich zu etablieren. Dazu kommen beim Format Video noch verschiedene Ängste, zum Beispiel davor porträtiert zu werden, sich selbst im Video zu sehen und zu hören. Manche Menschen finden das ganz schrecklich. Manche Wissenschaftler*innen haben vielleicht auch schlechte Erfahrungen mit Produktionen gemacht, in denen sie mitgewirkt haben, aber wenig Kontrolle hatten. Zum Beispiel in einem Fernsehbeitrag. Oft präsentieren sie ihre Daten und Ergebnisse, werden in den restlichen Prozess aber kaum eingebunden. Sie werden also auch nicht mitgenommen, wenn ihre Arbeit in diese andere Sprache übersetzt wird. Gleichzeitig gibt es auch historisch gesehen, bei vielen Formaten der Wissenschaftskommunikation die Diskussion über Vulgarisierung, Emotionalisierung und wie manipulativ das sein kann. Das wird dann als Bedrohung der Inhalte und deren Objektivität wahrgenommen – was ja auch zum Teil gerechtfertigt ist. Auch hier müssen wir über die Risiken diskutieren, um die Chancen nutzen zu können. Das Potenzial von Visualisierung für eine kompaktere und besser verständliche Darstellung von Wissenschaft ist beispielsweise immens. Es kann aber sicherlich auch eine Veränderung von Forschungsprozessen oder Ergebnissen passieren, wenn zum Beispiel ein Animationsdesign die Daten irreführend verfremdet.
In Ihrer Keynote haben Sie auch thematisiert, dass Bild und Ton in Kombination sehr suggestiv sein können. Das ist doch aber etwas, dass Wissenschaft genau nicht sein möchte, oder?
„Um Suggestion kommt man in keinem Kommunikationsformat herum. Egal, wie ich meine Daten präsentiere, ich stelle sie immer mit einer gewissen Konnotation dar.“Jeanine Reutemann
Das stimmt nur bedingt. Um Suggestion kommt man in keinem Kommunikationsformat herum. Egal, wie ich meine Daten präsentiere, ich stelle sie immer mit einer gewissen Konnotation dar. Dieser Diskurs ist natürlich riesig und historisch seit langem etabliert in der Wissenschaft. Eine Feldanalyse ist immer aus der Perspektive der Wissenschaftlerin geschrieben, die sie gemacht hat. Mit einer Gliederung gibt ein Forscher seiner Arbeit einen gewissen Rahmen. Eine Visualisierung ist immer auch mit einer Entscheidung für ein Design verbunden. Natürlich muss man bei Videos durch den Einsatz von Tönen und Musik oder allein durch den Bildausschnitt sehr viele solcher Entscheidungen treffen und man kann mit jeder auch ein dramatisches Moment herbeiführen. Darum braucht es Kompetenz und Wissen über solche Designstrategien, um diese Effekte zu lenken und Übertreibungen oder Fehldarstellungen zu verhindern. Andere Videoproduktionen, zum Beispiel aus dem Bereich der Verschwörungstheorien, nutzen diese Designstrategien aber sehr bewusst, um die Dramatik zu steigern. Wenn man hier ein nüchternes Faktenvideo daneben stellt, das Daten und eine zurückhaltende Interpretation zum selben Thema anbietet, dann wird sich das ganz klar auf die Rezeption auswirken. Tatsächlich kann auch Zurückhaltung bei der Kommunikation irreführend sein – wenn ein Ergebnis nun mal dramatisch ist, wie Beispielsweise der Rückgang der Artenvielfalt, so darf und sollte dies auch dramatisch kommuniziert werden. Realistisch betrachtet kann man also sagen: Die Wissenschaft braucht besseres Storytelling und mehr Co-Design von Videos. Expert*innen der Wissenschaft und des Mediendesigns sollten hier eng zusammenarbeiten.