Beim Projekt MigOst werden Erinnerungen und Alltagserfahrungen von Migrant*innen und migrantisierten Menschen in Ostdeutschland ausgetauscht und sichtbar gemacht. Katharina Warda und Karoline Oehme-Jüngling sprechen über die Bedeutung von Vertrauen, Selbstreflexion und Perspektivenvielfalt.
„Bei uns stehen die Stimmen und Erfahrungen der Menschen selbst im Vordergrund“
Frau Oehme-Jüngling, Frau Warda, warum hat die TU Dresden gemeinsam mit dem Verein DaMOst und weiteren Partnern ein Projekt zu ostdeutscher Migrationsgeschichte gestartet? Warum ist das Thema wichtig für Forschung und Gesellschaft?
Katharina Warda: Gerade im öffentlichen Diskurs gibt es sehr wenig Wissen über ostdeutsche Migrationsgesellschaft – oft wird pauschal davon ausgegangen, dass die ostdeutsche Gesellschaft immer weiß war und ist, was nicht der Fall ist. Wird über Migration in Deutschland gesprochen, ist das automatisch immer die Migrationsgeschichte Westdeutschlands.
Karoline Oehme-Jüngling: In Bezug auf die ostdeutsche Geschichte haben wir es mit hegemonialen Erinnerungsdiskursen zu tun, die große Lücken aufweisen. Denn wir haben beispielsweise ganz viele Biografien von DDR-Vertragsarbeiter*innen oder von Menschen aus internationalen Bildungsprogrammen, die wenig bekannt sind. In der Forschung gibt es dafür Aufmerksamkeit, im öffentlichen Diskurs ist das noch nicht breit verankert.
Aber selbst in der Forschung wird die deutsche Migrationsgeschichte anhand der westdeutschen Einwanderungsgeschichte erzählt. Zum Beispiel wenn es um Arbeitsmigration geht, betrachten wir die Geschichte der Gastarbeiter*innen, die in die BRD der 1950er, 60er und 70er kamen. Vertragsarbeiter*innen, die in die DDR kamen, werden nicht thematisiert. Das heißt, wir haben es hier mit einer doppelten Differenzierung und Marginalisierung zu tun. Die ostdeutsche Gesellschaft hatte eine fortwährende Historie der Einwanderung. Das möchten wir sichtbar machen und migrationsbezogene Erfahrungen in der Erinnerungskultur thematisieren.
MigOst ist ein partizipatives Projekt. Was bedeutet das?
Warda: Wir wollen ein Sprechen „über” Migrationsgeschichte vermeiden. Bei uns stehen die Stimmen und Erfahrungen der Menschen selbst im Vordergrund. Sie sind nicht nur Objekt unserer Forschung, sondern partizipatives Subjekt. Sie erzählen ihre eigenen Geschichten, die dann im Zentrum unserer Arbeit stehen. Der partizipative Ansatz ermöglicht uns, die Vielfalt der Perspektiven und die eigenen Narrative der Menschen, um die es geht, einzubringen.
Oehme-Jüngling: Ganz konkret gibt es zwei Phasen von Erzählcafés, die in Cottbus, Dresden und Halle stattfinden. In der ersten Phase, die letztes Jahr begonnen hat, sprechen wir die migrantische beziehungsweise auch die migrantisierte Community an, also Menschen, die rassifiziert werden und denen aufgrund ihres Aussehens eine Migrationsgeschichte zuschrieben wird. Wir möchten Räume zum Erzählen eröffnen, in denen andere Menschen noch nicht mit dabei sind. Uns ist es wichtig, einander kennenlernen und Vertrauen schaffen. In der zweiten Phase, vor der wir uns jetzt befinden, wird die Zielgruppe etwas ausgeweitet. Hier werden auch Freund*innen, Kolleg*innen, ehemalige Nachbar*innen mit eingeladen.
Beide Phasen werden flankiert durch vertiefende biografische Interviews. Das Wissen, das dabei generiert wird, soll dann partizipativ in Form von Stadtlaboren in konkrete Kulturproduktionen übersetzt werden. Was dabei rauskommen wird, ist bewusst offen gehalten, um auf die Wünsche der Zielgruppe einzugehen. Es könnte beispielsweise ein Dokumentationstheaterstück, ein Stadtrundgang oder eine Ausstellung in einem Stadtmuseum entstehen.
Was passiert bei so einem Erzählcafé?
Warda: Das ist ein privates Setting, es gibt keine Zuschauer*innen, sondern nur aktive Mitglieder. Wir sind im Vorfeld in den drei Städten gezielt auf verschiedene migrantische Selbstorganisationen zugegangen und haben unser Projekt vorgestellt. In Halle war das beispielsweise die Initiative Migrant Voices, mit der wir das Erzählcafé gemeinsam konzipiert haben. Die Gruppen sind von Anfang an stark in den Organisationsprozess eingebunden: Welche Form soll das Erzählcafé haben? Wo soll es stattfinden? In Halle haben wir uns für ein Abendessen mit einer anschließenden gemeinsamen Erzählrunde entschieden. Den Abend hat eine Person von Migrant Voices moderiert. Ich habe mich eher um das Organisatorische drumherum gekümmert.
Wir haben einen Ansatz, der erst mal nicht nach außen geht. In den Erzählcafés geht es vielmehr darum, sich untereinander auszutauschen möglichst jenseits der mehrheitsgesellschaftlichen Klischees und Vorurteile. Es hat erfahrungsgemäß eine ganze andere Qualität, wenn man untereinander spricht.
Wir haben uns dagegen entschieden, ein Erzählcafé in Form eines kleinen Podiums zu organisieren, das dann in die breite Öffentlichkeit ausstrahlt. Daran ist erst mal nichts verkehrt. Es gibt fantastische Veranstaltungen, die so funktionieren. Aber das ist auch eine sehr gängige Herangehensweise. Migrant*innen haben oft die Funktion, der Mehrheitsgesellschaft etwas zu erklären.
Ostdeutsche Migrationsgesellschaft selbst erzählen (MigOst)
Das partizipative Projekt „ostdeutsche Migrationsgesellschaft selbst erzählen“ (MigOst) hat zum Ziel, Gelegenheiten für die gemeinsame Auseinandersetzung mit der (eigenen) Migrationsgeschichte zu schaffen. Teilhabe von Migrant*innen in Ostdeutschland soll sichtbarer gemacht und als normaler Teil ostdeutscher Geschichte und Gesellschaft im mehrheitgesellschaftlichen Diskurs kenntlich gemacht werden. Im Rahmen von MigOst kooperiert das Zentrum für Integrationsstudien der Technischen Universität Dresden mit dem Dachverband Migrant*innenorganisationen in Ostdeutschland (DaMOst), der Brandenburgischen Technischen Universität Cottbus (BTU), dem Institut für Sächsische Geschichte und Volkskunde Dresden e.V. (ISGV) und dem Deutschen Zentrum für Integrations- und Migrationsforschung Berlin (DEZIM). Das Projekt hat eine Laufzeit von März 2021 bis Februar 2024. Gefördert wird es im Rahmen des Förderbereichs Bürgerforschung vom Bundesministerium für Bildung und Forschung.
Oehme-Jüngling: Auf jeden Fall die Erzählcafés und die Stadtlabore beziehungsweise die Kulturproduktionen. Der partizipative Ansatz spiegelt sich auch in der Projektstruktur und der extrem fruchtbaren Zusammenarbeit der TU Dresden mit DaMOst als NGO wieder.
Wir führen auch biografische Interviews mit Teilnehmer*innen aus den Erzählcafés. Diese sind dann weniger partizipativ, sondern kultur- und sozialanthropologisch orientiert. Aber wir kennen bereits die Themen, die den einzelnen Personen wichtig sind und versuchen diese zu berücksichtigen. Die Transkripte der Interviews bilden dann die Forschungsdaten, die wissenschaftlich weiter ausgewertet werden können.
Da das Projekt im Kontext der Bürgerforschung vom BMBF gefördert wird, ist auch die Wissenschaftskommunikation in die Öffentlichkeit sehr wichtig. Das passiert über die Kulturproduktion in der dritten Phase. Zusätzlich werden alle Daten im Lebensgeschichtlichen Archiv unseres Kooperationspartners, dem Institut für Sächsische Geschichte und Volkskunde in Dresden, archiviert und können sowohl für die Wissenschaft als auch für die Praxis nachgenutzt werden – zum Beispiel im Rahmen der Kulturproduktion.
Erheben Sie auch bei den Erzählcafés Daten?
Welche Herausforderungen gibt es bei so einem Projekt in Sachen Partizipation?
Warda: Herausforderungen sehe ich auf zwei Ebenen. Die eine betrifft uns selbst. Wir haben uns sehr viel Zeit genommen, zu besprechen: Was umfasst Partizipation und wo stehen wir in diesem Prozess? Dafür haben wir uns Leitlinien geschrieben. Denn es wäre eine Illusion zu denken, dass wir als Wissenschaftler*innen oder als bezahlte Mitarbeiter*innen eines Projekts machtfrei ins Feld gehen und dann mit anderen Personen auf gleicher Ebene zusammenkommen. Wir haben versucht mitzudenken, dass natürlich auch eine Ökonomie dahintersteckt, wenn wir die Geschichten von anderen verwenden. Die Geschichten der Migrant*innen und migrantisierten Personen, die mit uns sprechen, sind Wissen, was der Mehrheitsgesellschaft fehlt. Wenn wir das als Wissenschaftler*innen und Mitarbeiter*innen einfach nur übernehmen und unsere Karrieren darüber aufbauen, ohne dass es der Sache als solcher nutzt, hat das etwas Ausbeuterisches und reproduziert diskriminierende Strukturen unserer Gesellschaft. Im Umgang mit den Geschichten entsteht für uns also eine Verantwortlichkeit, die als solche erkennen und ernst nehmen. Uns war extrem wichtig, das alles mitzudenken, um nicht aus einer Blindheit heraus bestimmte Machtstrukturen zu reproduzieren.
Was motiviert die Zielgruppe, mitzumachen? Und welche Vorbehalte gibt es?
Warda: Beides ist total vielfältig und hängt von den einzelnen Personen ab. Ich würde sagen, im Großen und Ganzen ist die Motivation ähnlich wie bei uns: Es gibt im öffentlichen Diskurs zu wenig zu dem Thema. Der ist sehr stark von der Idee einer weißen, homogenen, ostdeutschen Gesellschaft geprägt. Das fällt einem besonders auf, wenn man selbst in Ostdeutschland lebt. Wir arbeiten mit migrantischen Selbstorganisationen zusammen, die auch aus einem bestimmten Interesse zusammengekommen sind. Sie wollen ihre Sicht und ihre Perspektiven mehr in den öffentlichen Diskurs bringen. Ich habe ein Unbehagen, für alle zu sprechen, aber ich denke, das ist im Endeffekt der gemeinsame Nenner.
Manchmal werden wir gefragt: Warum sollen wir uns denn noch mal treffen? Das machen wir doch privat auch. In dem privaten Setting der Erzählcafés wird das große Ganze manchmal vergessen. Da versuche ich noch mal zu vermitteln, was wir eigentlich wollen, und sage: Wir brauchen eine eigene Stimme, eigene Diskurse und Erzählweisen. Die müssen wir erst mal finden, um sie auch in die Außenwelt spielen zu können.