Lange vor Youtube-Videos und Science Slams dienten Lehrgedichte, Dialoge und Theaterstücke der Vermittlung von Wissen. Ein Überblick über die Wissenschaftskommunikation von Hesiod bis Augustinus.
Ars longa: Wissenschaftskommunikation in der Antike
Wenn man über Wissenschaftskommunikation spricht, denkt man an ein relativ neues Phänomen. Die heutige Wissensgesellschaft gestaltet den Zugang zu populärwissenschaftlichen Informationen sehr einfach: Bücher, Fernsehproduktionen, Zeitschriften oder das Internet stellen rund um die Uhr Informationen zur Verfügung, hinzu kommen Veranstaltungen und Ausstellungen. Doch auch in der Antike zeigte die Bevölkerung einen Wissensdurst, den Gelehrte zu stillen versuchten. Die Formate, in denen sie vor allem philosophisches und technisches Wissen vermittelten, haben natürlich etwas anders ausgesehen als heute.
Wahrscheinlich war der erste Wissenschaftskommunikator des Westens kein anderer als der Dichter Hesiod (geb. um 700 v. Chr.), der zu empfehlen wusste: „Mäßigung übe nur stets, denn Maß ist von allem das Beste.“ Dieser Spruch stammt aus „Werke und Tage“, dem ältesten überlieferten Lehrgedicht der Antike. Trotz der zeitlichen Distanz zum Autor hat der Vers bis heute einen praktischen Nutzen. Viele solcher Lehrgedichte haben populäres Wissen bis in die Gegenwart transportiert – sie können damit als das erste Beispiel einer systematischen Wissenschaftskommunikation angesehen werden.
In „Werke und Tage“ beschreibt Hesiod die Lebensweise des guten Bauern und die damalige kosmische Weltordnung in Hexametern. Seit seiner Publikation erlangte das Gedicht große Bekanntheit in der Antike. Um genau zu sein, wurde es nicht publiziert, sondern sehr oft vorgetragen. Solche Texte wurden etwa in feierlichen Wettbewerben (Agone), in Abendmahlen (Symposien) und in der Schule vorgetragen, kommentiert und auswendig gelernt. Durch die Vielfalt der Verbreitungswege dürften sehr unterschiedliche Zielgruppen, sowohl in Griechenland als auch später in Rom, erreicht worden sein.
Wissenschaft in wohklingenden Versen
Die Popularisierung dieser Texte in der altgriechischen Welt durch lyrische Wettbewerbe zeigen, wie wichtig die Rhetorik für die Verbreitung von Ideen und Konzepten war. Dies betrifft auch die vorsokratischen Philosophen, die häufig als die ersten empirischen Wissenschaftler angesehen werden, da sie ihr Wissen auf Erfahrung (Empeiria) aufbauten. Der Naturphilosoph Parmenides (um 515–445 v. Chr.) formulierte seine monistische Theorie – wonach alles auf ein Grundprinzip zurückzuführen sei – in wohlklingenden daktylischen Hexametern. Auch die einflussreiche Elementenlehre von Empedokles wurde in Versen verfasst.
Es ist anzunehmen, dass nur dank des Vermittlungsformats als Gedicht einige Fragmente dieser Philosophen die Zeit überdauert haben. Hingegen sind viele ausführliche Texte in Prosa verloren gegangen. In hellenistischer Zeit galt beispielsweise der Philosoph Epikur (um 341–270 v. Chr.) als ein nachlässiger Schreiber. Seine atomistischen Theorien erlangten jedoch große Bekanntheit, weil einer seiner Nachfolger, Lukrez (um 99–55 v. Chr.), ein sehr populäres Gedicht darüber schrieb: „De rerum natura“ (Über die Natur der Dinge).
Dank des rhetorischen Könnens und der würdigen Wiederholbarkeit des Lehrgedichts sind Epikurs Ideen bis in die Gegenwart erhalten geblieben. Lyrik und Wissenschaft haben seither nicht mehr in dieser Weise symbiotisch gearbeitet, auch wenn der Rückgriff auf die Antike immer wieder präsent gewesen ist: In der Romantik verfasste zum Beispiel Erasmus Darwin (1731–1802) – der berühmte Galvanisierer, der Mary Shelleys „Frankenstein“ zum Teil inspirierte – seine Naturlehre noch in Versen.
Neben den Lehrgedichten gab es in der Antike noch weitere Gattungen für die Verbreitung von Naturlehre, Kognitionstheorie und Ethik. Für die Auseinandersetzung mit komplexen philosophischen, naturwissenschaftlichen und politischen Fragen schrieb Plato (427–348 v. Chr.) seine Dialoge, die manchmal dem heutigen Format des Interviews nahekommen. Damit begründete er eine sehr erfolgreiche wissenschaftliche Methode, die jeder Bürger mit seinem Verstand üben konnte, nämlich die Dialektik. Auf Grund des gesellschaftlichen Skandals, den der Tod von Platos Mentor Sokrates (um 470–399 v. Chr.) auslöste, wissen wir, dass das intellektuelle Leben in der Antike nicht im Elfenbeinturm stattfand, sondern in öffentlichen und offenen Räumen. Jeder freie Bürger konnte am philosophischen Leben teilhaben – wenn auch, wie im politischen Leben, Frauen und Sklaven davon ausgeschlossen waren.
Experten-Laien-Kommunikation als „lange Kunst“
Wie sah es aber mit der Experten-Laien-Kommunikation im Speziellen aus? Dass die Wissensvermittlung an einfache Bürger eine komplexe Kunst war, bezeugt der Vater der Medizin, Hippokrates (um 460–370 v. Chr.), als er sagte, dass „das Leben kurz, die Kunst jedoch lang“ sei. In der Literatur des Abendlandes ist der griechisch-latinisierte Aphorismus bekannter in umgekehrter Reihenfolge: „Ars longa, vita brevis.“ Der Arzt und Wissenschaftler Hippokrates bezog sich hier auf die begrenzte Zeit, die dem Mediziner zur Verfügung stand, um die medizinische Kunst an sich und auch die Kunst der Experten-Laien-Kommunikation zu beherrschen.
Der Zugang zum Wissen war für interessierte Bürger aber nicht sonderlich schwierig. Platos Akademie, das Lykeion von Aristoteles und, insbesondere, der Garten von Epikur waren keine geschlossene Lehr- und Lernorte. Im Garten Epikurs durften sogar Sklaven und Frauen mitwirken, etwas Revolutionäres für die damaligen Verhältnisse. Sophisten und Philosophen entwickelten sogar besondere Kommunikationsformate, um Studenten zu gewinnen. Ein interessantes Beispiel ist die Gattung der sogenannten protreptischen Rede, die dazu diente, neue Schüler für die eigene Rhetorik- oder Philosophie-Schule zu gewinnen. Berühmte „Werbereden“ (Protreptikoi) der Antike sind die Werbeschriften – eigentlich Aufrufe zur Philosophie – von Aristoteles (um 384–322 v. Chr.) und Iamblichos (um 240–320). Ein paar Jahrhunderte vor Ihnen hatten die Sophisten bereits ihre Rhetorik-Kurse mit ähnlichen Reden öffentlich beworben. Sie sind praktisch ferne Vorläufer des Imagefilms und des Tags der offenen Tür an Universitäten.
Die Philosophie tat der griechischen Kultur gut und wurde selbst in schwierigen Zeiten von Krieg und Diktatur nicht aufgegeben. Diese Beliebtheit wird von den sogenannten exoterischen Texten (solchen für ein außenstehendes Publikum) bezeugt. Diese Texte konnten Lehrgedichte sein, aber auch klar formulierte Briefe, die im Rahmen von teils öffentlichen, einführenden „Kursen“ vorgetragen wurden – eine Methode, die an die spätere Verbreitung der Evangelien durch die Apostel erinnert.
Viele Texte, die der Philosophiehistoriker Diogenes Laertius (um 200) überliefert hat, können als Beispiele antiker Populärwissenschaft angesehen werden. Die esoterischen (nur für Eingeweihte zugänglichen) Texte waren meistens weitaus länger, schwieriger und nicht für Laien geeignet. Viele von ihnen sind vielleicht gerade deswegen verloren gegangen. Der stilistische Vergleich von populären und fachlichen Texten gibt Aufschlüsse über den wichtigsten Unterschied: Populäre Texte sind rhetorisch besonders gut ausgearbeitet. Man kann daher sagen, dass die rhetorischen Fähigkeiten den guten Kommunikator ausmachten. Dies ist heute nicht anders.
Wortkunst zur anschaulichen Beschreibung
Die interessanteste rhetorische Vorübung in diesem Zusammenhang ist wahrscheinlich die sogenannte Ekphrasis, die Wortkunst zur anschaulichen und deutlichen Beschreibung von Dingen, Personen oder Situationen. Die einprägsamsten und vergnüglichsten Passagen aus antiken Texten stehen in dieser jahrhundertlangen Tradition, die mit der berühmten Beschreibung des Schildes von Achilles in der Illias anfängt. Die Vorbilder der Ekphrasis, von denen sich die Rhetoren bedienen, sind jedoch nicht so sehr Gedichte, sondern Prosatexte, allen voran die von zwei Geschichtsschreibern: den Historikern Herodot (um 490–430 v. Chr.) und Thukydides (um 455–398 v. Chr.). Ihre Texte waren für das Vortragen geeignet. Thukydides selbst sagte, dass er mit seinem Buch ein „Monument für alle Zeiten“ errichten wollte, ein Denkmal, das zukünftige Zuhörer und heutige Leser ansprechen sollte.
Das nationale Gedächtnis sowie die identitätsstiftenden Mythen wurden nicht nur in Worten, sondern auch in Bildern und Skulpturen gefasst. Welchen Beitrag die bildende Kunst an der Verbreitung von naturwissenschaftlichem und technischem Wissen in der Antike hatte, ist eine selten gestellte Frage. Viele Keramikabbildungen, Skulpturen, Fresken und Mosaiken zeigen mythologische, manchmal auch historische Szenen auf plakative Art und Weise. Der schnellste Weg, um Ideen und Wissen, aber auch Vorurteile und sogar „Fake News“ unter der Bevölkerung zu verbreiten, waren Bilder oder audiovisuelle Formate. Neben der Einweihung von Denkmälern, Tempeln und öffentlichen Räumen mit narrativen Reliefs und Skulpturen waren das vor allem Theateraufführungen, insbesondere die Aufführung von Komödien. Hier wurden alle Künste (Musik, Lyrik und Plastik) zusammengeführt. Wie viel Wissenschaft in diesen populären Medien der Antike tatsächlich vermittelt wurde, ist noch zu ergründen – vergleichbar mit der Frage, wie populäre Fernsehserien von heute wissenschaftliche Inhalte transportieren.
In der Spätantike verlor durch die Christianisierung des römischen Imperiums das Pantheon der Römer seine weltanschauliche und gesellschaftliche Funktion. Die Lehren des Christentums wurden nun mit neuplatonischen Theorien und dem geozentrischen, ptolemäischen Weltbild vereint. Die Kirchenväter fingen an, Lebens- und Wissensbereiche mitzuprägen, die Theologie sollte zum dominanten Fachgebiet für Gelehrte werden. Nun musste vor allem theologisches Wissen vermittelt werden, um die neue Weltordnung in der Wissenschaft und in der Gesellschaft zu stützen.
Augustinus (354–430) verfasste die erste Predigtlehre in „De doctrina christiana“ und setzte darin die antike Rhetorik-Tradition im Dienste der Kirche fort. Reden (Homilien) und Predigten wurden die wichtigsten Kommunikationsmedien der ersten Kirche. Basilius der Große (um 330–379) beschrieb in Homilien das neue Naturbild, das an die Antike anknüpfte. Auf diese Weise erlangte auch der Erzbischof von Konstantinopel, Johannes Chrysostomos (um 349–407), große Berühmtheit.
Obwohl sich also die antike Gesellschaft, auch in Bezug auf die Wissenschaft, stark von unserer heutigen unterschied, gab es durchaus Parallelen in der Wissensvermittlung zwischen Gelehrten und Laien. Inwiefern die hier skizierten Wissenschaftskommunikationsformate der Antike fortgesetzt, überliefert oder transformiert wurden, ist eine spannende Frage, welche Forschende mehrerer Disziplinen noch lange beschäftigen wird.
Die Inhalte dieses Artikels basieren auf vorläufigen Ergebnissen des Forschungsprojekts „Genealogie der Populärwissenschaft“, das der Autor am ZAK | Zentrum für Angewandte Kulturwissenschaft und Studium Generale am Karlsruher Institut für Technologie (KIT) durchführt.