Simon David Hirsbrunner beschäftigt sich mit Online-Debatten rund um den Klimawandel. In einer Studie hat er untersucht, wie Youtube-Nutzer*innen Informationen zum Anstieg des Meeresspiegels in Kommentaren diskutieren. Der Kommunikationswissenschaftler plädiert dafür, auftretende Unsicherheiten und Ambiguitäten produktiv zu nutzen.
Ambivalenz als Chance begreifen
Herr Hirsbrunner, Sie schreiben in Ihrer Studie „Negotiating the Data Deluge on YouTube“, dass die Ikonographie des Klimawandels vor allem durch zwei Visualisierungsstrategien gekennzeichnet ist. Welche sind das?
Einmal gibt es jene Bilder, die versuchen, das Globale und Komplexe des Klimawandels zu erfassen. Befürworter*innen dieses Bildtyps arbeiten hauptsächlich mit Diagrammen und Karten, die wissenschaftliche Ergebnisse darstellen. Das Problem dabei ist, dass Menschen diese Bilder oft als abstrakt und weit entfernt von ihrer alltäglichen Lebenswelt wahrnehmen. Im Kontrast dazu steht eine andere Kommunikationsstrategie und einem Bildtyp, die vor allem von Nichtregierungsorganisationen wie Greenpeace gewählt werden. Hier geht darum, die Verwundbarkeit von Menschen, von Natur und Lebewesen darzustellen, indem man sie an bestimmten Situationen festmacht. Beispielsweise durch die Visualisierung des Eisbären auf der Scholle, Fotos von geschmolzenen Gletschern oder trockenen Landschaften in afrikanischen Ländern. Diese Bilder beschreiben aber nicht den Klimawandel als Gesamtphänomen, sondern zeigen konkrete, lokale Beispiele für Klimafolgen.
Zu diesen zwei Bildtypen und Visualisierungstrategien kam in den letzten Jahren eine dritte Variante, die auf den Möglichkeiten digitaler, interaktiver Computertechnologie aufbaut: Dabei werden sehr realistische 3D-Visualierungen von zukünftigen Welten mit dem Klimawandel generiert und Interaktionsmöglichkeiten mit diesen Szenarien ermöglicht. Diese Ansätze versuchen, beides zu kombinieren: Man findet sich mittendrin wieder, soll den Klimawandel fühlen. Aber trotzdem ist die simulierte Situation mit der Gesamtheit des Klimawandels als Phänomen verlinkt.
Sie haben in Ihrer Studie anhand von zwei Youtube-Videos, die den beschriebenen dritten Ansatz verfolgen, analysiert, wie Menschen in Kommentarspalten Szenarien zum Anstieg des Meeresspiegels diskutieren. Welche Beispiele haben Sie gewählt?
Ich wollte ein repräsentatives Beispiel für ein Zukunftsszenario mit Klimafolgen finden. Dabei sind Karten des Meeresspiegelspiegelanstiegs – oder auf Englisch Sealevel Rise Maps – in den letzten Jahren sehr populär geworden. Neue, wissenschaftliche Erkenntnisse aus der Klimafolgenforschung haben gezeigt, dass das Schmelzen der Polarkappen zu einem massiven Anstieg des Meeresspiegels führen wird. Auf Basis solcher Szenarien können Hydrolog*innen Risiken für einzelne Küstenregionen und Stadtdistrikte ausrechnen und kartografieren. Es gibt viele Initiativen, die solche Karten für ein nichtwissenschaftliches Publikum verständlich machen und im Netz zur Verfügung stellen. Auf den interaktiven Karten sieht man sehr plastisch, welche Risiken der erwartete Meeresspiegelanstieg birgt. Für Menschen, die an einem solchen Ort wohnen, wird das auf diese Weise sehr schnell sehr konkret. Sie sehen, dass der Ort, an dem das eigene Haus steht, voraussichtlich untergehen wird.
Wie sind Sie in Ihrer Studie methodisch vorgegangen?
Mich hat interessiert, wie Menschen solche plastischen, aber computergenerierten Szenarien von Klimarisiken wahrnehmen, diskutieren und damit sozial verhandeln. Natürlich hätte ich Menschen mit den Karten konfrontieren können, sie im Rahmen von Interviews befragen oder eine Umfrage durchführen können. Das wird im wissenschaftlichen Feld der Klimawandel-Kommunikation oft gemacht. Die Idee der Studie war jedoch, einmal eine andere Datenbasis für die Analyse zu nutzen. Das Internet und soziale Medienplattformen können eine Ressource für Sozialwissenschaftler*innen sein, um etwas über menschliches Verhalten, zeitgenössische Formen der Kommunikation und Wissensaneignung zu erfahren.
Sie wollten rausfinden, wie Wissensaneignung und die Auseinandersetzung mit Information über solche Videos funktioniert. Welche Reaktionen haben Sie identifiziert?
Einige Menschen akzeptieren die Zukunftsvision als gegeben und schreiben: Das ist ganz schrecklich, was tun wir denn jetzt? Andere stellen das Szenario grundsätzlich in Frage, leugnen den menschengemachten Klimawandel oder diskreditieren die Klimaforschung gar als Pseudo-Wissenschaft. Die so polarisierte Debatte zum Klimawandel wurde in der kommunikationswissenschaftlichen Forschung oft beschrieben.
Allerdings gibt es auch zahlreiche Kommentare, die viel ambivalenter mit dem dargestellten Zukunftsszenario umgehen. Dabei äußern sich Nutzer*innen nicht so sehr explizit zur Plausibilität des Szenarios, sondern nutzen Kommunikationsmittel wie Ironie und Sarkasmus, um ihre ambivalente Einstellung auch für andere Nutzer*innen sichtbar zu machen. In der Studie argumentiere ich, dass die Ambivalenz als Strategie des Umgangs mit unsicherer Information im Zeitalter digitaler Medien zu werten ist.
Warum sind solche Strategien wichtig?
Sie sind sehr wichtig in einer Zeit, in der große Teile der öffentlichen Debatte und auch die persönliche Informationsaneignung über das Netz und kuratierte Medienumgebungen wie Youtube geschehen. Menschen können nicht immer genau einschätzen, wie seriös und sicher Informationen sind, die ihnen dort präsentiert werden.
Sie schreiben auch, dass bei Ihren Beispielen auf Youtube gar nicht so viel darüber diskutiert wird, ob die Informationen akkurat sind?
Die Kommentare zeigen aber indirekt, dass man das, was gezeigt wird, nicht ganz ernst nimmt oder es nicht richtig einschätzen kann – zum Beispiel über sprachliche Taktiken wie Ironie. Ich denke, dass es in der Wissenschaftskommunikation interessant sein kann, mit dieser Ambivalenz zu spielen und sie für die Vermittlung produktiv zu machen.
Wie könnte das aussehen?
Stellen wir uns eine Organisation mit einem Team von Wissenschaftskommunikator*innen und Social-Media-Manager*innen oder klassischen PR-Menschen vor. Diese stellen dann so eine Visualisierung oder ein Interview mit einem*r Wissenschaftler*in auf YouTube ein. Klassischerweise sind die Kommunikator*innen sehr daran interessiert, dass die Visualisierung klar ist und deutlich rüberkommt. Wenn Zuschauer*innen diese dann hinterfragen oder sogar dementierten, dass es sich um eine wissenschaftliche Information handelt, hat für sie die Kommunikationsstrategie praktisch versagt. Meine Empfehlung wäre aber, das produktiver zu sehen: Wenn eine Visualisierung auf Twitter oder auf Youtube sozial geteilt wird, ist es gut, wenn die Leute erst einmal vorsichtig an diese Information herangehen und auch im Gespräch versuchen, sich eine Meinung zu bilden.
Welche Auswirkungen könnte eine Wissenschaftskommunikation haben, die Ambivalenzen als Chance begreift?
Es braucht Mut von Kommunikator*innen, weil darin auch die Gefahr des Vertrauensverlust in die Wissenschaft einhergehen kann. Das ist mir bewusst. Es kommt auch auf das Thema an. Ich sage nicht: Wenn die Regierung über die Sicherheit des AstraZeneca-Impfstoffs informieren will, sollte sie Ambivalenz befördern. Mir ist bewusst, dass mein Vorschlag nicht für alle Arten der Wissenschaftskommunikation sinnvoll ist.
Ich denke aber: Wissenschaftskommunikation hat heute oft sehr komplexe Themen im Blick, die nicht nur streng wissenschaftliche Komponenten haben, sondern auch sozialpolitische und kulturelle, wie den Klimawandel, aber auch diese Pandemie. In der Wissenschaftskommunikation wird zu viel von Komplexitätsreduktion gesprochen. Das ist einfach nicht passend für vielschichtige Themen wie den Klimawandel oder künstliche Intelligenz. Es wird zu viel informiert und zu wenig miteinander gesprochen. Und meine Empfehlung an die digitale Wissenschaftskommunikation wäre, auf digitalen Plattformen weniger zu erklären und mehr zu debattieren. Die Wissenschaftkommunikation kann so einen Beitrag leisten, dass Menschen sich selbst eine Meinung zu wissenschaftlichen Themen bilden und zudem eine digitale Kompetenz zum Umgang mit unsicherem Wissen erarbeiten können.
Welche Impulse ergeben sich aus dieser Studie für weitere Forschungsvorhaben?
Haben Sie dafür ein Beispiel?
Solche KI-Sprachmodelle werden beispielsweise von den Betreibern der digitalen Medienplattformen zur Erkennung von hasserfüllter Rede, also Hate Speech, eingesetzt. Wissenschaftliche Studien haben jedoch ergeben, dass sich diese Algorithmen sehr leicht austricksen lassen; beispielsweise, indem einer Hasstirade das Wort „Liebe“ beigefügt wird, womit es dann nicht mehr als despektierlich klassifiziert wird. Der Punkt dabei ist nicht, dass Modelle dumm sind und besser werden müssen. Eher, dass Menschen immer Wege finden, solche automatisierten Verfahren auszutricksen – beispielsweise, indem auch sie Ambivalenz für sich nutzen. Und diese Taktiken können dann wieder von Sozialwissenschaftler*innen wie mir untersucht und charakterisiert werden.
Hirsbrunner, S. D. (2021) Negotiating the Data Deluge on YouTube: Practices of Knowledge Appropriation and Articulated Ambiguity Around Visual Scenarios of Sea-Level Rise Futures. Frontiers in Communication. https://www.frontiersin.org/articles/10.3389/fcomm.2021.613167/full