Ein Streit zwischen Virolog*innen auf X zeigt, wie kontrovers und hitzig Debatten auf der Plattform verlaufen können– und wirft die Frage auf: Ist gute Wissenschaftskommunikation auf X überhaupt noch möglich? Ein Einblick in die Debatte.
Wissenschaftskommunikation und X – geht das noch?
Freund oder Feind? Häufig würden Wissenschaftler*innen bewusst oder unterbewusst in eine dieser Kategorien eingeordnet werden, sagte David Kaldewey in seiner Keynote beim Forum Wissenschaftskommunikation letzte Woche.
Für ein Gedankenexperiment zeigt der Direktor der Abteilung Wissenschaftsforschung am Forum Internationale Wissenschaft der Universität Bonn in seiner Präsentation eine Collage mit Gesichtern von Wissenschaftler*innen, die während der Pandemie bekannt wurden. Er fordert die Zuhörer*innen dazu auf, sich selbst zu fragen, welchen von diesen Wissenschaftler*innen sie – zugespitzt formuliert – auf der „guten“ oder „schlechten“ Seite der Wissenschaft verorten würden. So manche*r Zuhörer*in fühlte sich sicherlich dabei ertappt, den einen oder anderen Wissenschaftler*in tatsächlich gedanklich in eine Schublade einsortiert zu haben. Als einen Grund für diese Einordnung sieht Kaldewey auch politische Positionen und Interessen, die man den jeweiligen Wissenschaftler*innen teilweise auch unterbewusst unterstellen würde.
Auf den Bildern sind auch Christian Drosten, Sandra Ciesek und Jonas Schmidt-Chanasit zu sehen. Drosten und Ciesek könnten laut Kaldewey eher einer gemeinsamen politischen Richtung zugeordnet werden, die sich von der Schmidt-Chanasits unterscheide.
Diese drei Virolog*innen diskutierten kürzlich auf der Plattform X tatsächlich heftig über gegensätzliche Meinungen und daraus resultierende Entscheidungen, die während der Pandemie getroffen wurden, zum Beispiel über Impfungen oder Schulschließungen. Nicht nur Beteiligte dieser Debatte stellen sich danach die Frage, ob gute Wissenschaftskommunikation auf X überhaupt noch möglich ist und inwieweit die Dynamiken der Plattform ein solches Freund-Feind-Denken beeinflussen können.
Die Provokation mit dem #Hashtag
Auslöser der Diskussion war ein Post von Jonas Schmidt-Chanasit. Der Leiter des Department of Arbovirology am Bernhard-Nocht-Institut in Hamburg schreibt: „Wir meinten, es besser als andere zu wissen, lagen aber dramatisch falsch. Warum wurden diejenigen Stimmen, die richtig lagen, nicht gehört?“.
👉 „Wir meinten, es besser als andere zu wissen, lagen aber dramatisch falsch.“ Die Frage ist: Warum wurden diejenigen Stimmen, die richtig lagen, nicht gehört?“ WK #corona #coronavirus #Aufarbeitung #covid19 #Drosten #SARSCoV2
— Jonas Schmidt-Chanasit (@ChanasitJonas) December 2, 2024
Neben Hashtags wie #corona und #Aufarbeitung fügt er auch den #Drosten hinzu. Hashtags dienen in sozialen Medien dazu, Konversationen oder Postings zu einem bestimmten Begriff gezielt aufzulisten oder zu durchsuchen. Christian Drosten, Direktor des Instituts für Virologie an der Charité in Berlin wurde von Schmidt-Chanasit also nicht direkt getaggt, was in sozialen Medien als Aufforderung zum Dialog verstanden werden kann, sondern den Themen #Aufarbeitung und #corona zugeordnet.
Sandra Ciesek sieht darin eine Provokation und ein populistisches Mittel, das speziell auf der Plattform X eingesetzt wird. Auf Bluesky schreibt die Direktorin des Instituts für Medizinische Virologie am Universitätsklinikum Frankfurt: „Die populistische Nennung von ungeliebten Kollegen auf X mittels Hashtags ohne Einordnung, Belege oder Zusammenhang ist weder wissenschaftlich noch faktenbasiert. Es dient letztlich nur dem eigene[n] (meist gekränkten) Ego.“ Ciesek schreibt weiter, dass es für die markierte Person schwierig sei, richtig zu reagieren: „Nicht zu widersprechen kommt dabei gerade recht. Schweigt die Person, wird das als Zustimmung gewertet.“ Reagiert die Person darauf, laufe sie Gefahr, angefeindet zu werden, „die Anonymität lässt oft den Ton entgleiten.“
Christian Drosten selbst reagiert auf den Post von Schmidt-Chanasit mit einer Gegenfrage: „Lieber Herr Schmidt-Chanasit, wenn Sie schon meinen, mich hier namentlich markieren zu müssen, erlauben Sie doch bitte die Frage: wo konkret glauben Sie, richtig gelegen zu haben? Und wo meinen Sie, nicht gehört worden zu sein?“
Es folgt ein Schlagabtausch der beiden Virologen über Aussagen und Empfehlungen zur Corona-Impfung und Schulschließungen. Der Diskurs dreht sich um Vorwürfe, wann einer der beiden Virologen während der Pandemie missverständliche oder falsche Aussagen gemacht hat.
Gute Wisskomm auf X – geht das noch?
Immer wieder wird die Art dieses öffentlichen Schlagabtauschs auf X kritisiert. Ein Nutzer fordert Schmidt-Chanasit auf, missverständliche Aussagen nicht unkommentiert zu lassen: „Es [ist] schon erstaunlich, wenn [Sie] sich als guter Wissenschaftskommunikator bezeichnen, hier Posts mit tausend Likes stehen lassen, die generell Impfungen bei Kindern als falsch bezeichnen. Das kann man im Gesamtbild schon als Impfbashing bezeichen, da sollten sie was klarstellen.“ Auch der Virologe Luka Cicin-Sain versteht Schmidt-Chanasits Aussagen als „Impfbashing“.
Schmidt-Chanasit weist diese Vorwürfe zurück und betont, dass es ihm um eine Aufklärung der zeitlichen Abläufe ginge und verweist dabei auf einen Thread von Data Scientist Daniel Haake.
Ciesek geht so weit zu vermuten, dass Schmidt-Chanasit (ohne ihn namentlich zu nennen) „ein[en]Kollateralschaden beim „Feindbild“ [also Drosten] bei seinen Posts auf X billigend in Kauf nimmt. Auch, weil Schmidt-Chanasit sich durch die eigene anonyme Followerschaft bestärkt fühle. Drosten sieht ebenfalls ein Problem bei den Followern. Er nennt sie „Claqueure“, die Schmidt-Chanasit über die Jahre auf X durch „jahrelangen Stichelei und den Algorithmen“ um sich versammelt habe und ihm ein Gefühl der Bestätigung vermitteln würden. Weiter bezeichnet er Schmidt-Chanasits Verhalten als „hinterhältig“– nicht nur gegenüber Kolleg*innen, sondern insbesondere der Öffentlichkeit. Schmidt-Chanasit äußerte sich bisher nicht zu dieser Anschuldigung.
Sandra Ciesek sieht in diesem Schlagabtausch ein typisches Beispiel für die Art, wie Debatten auf X ablaufen. Bei der Frage, ob es richtig wäre, sich von X zurückzuziehen, ist sie sich unschlüssig: „Ohne Widerspruch könnten viele stille Leser eine falsche Orientierung bekommen. Widersprechen wo Fehler und Unrecht verbreitet wird bleibt wichtig.“
Ich weiß nicht, ob es richtig ist, sich auf X komplett zurückzuziehen. Ohne Widerspruch könnten viele stille Leser eine falsche Orientierung bekommen. Widersprechen wo Fehler und Unrecht verbreitet wird bleibt wichtig. Überall
— Sandra Ciesek (@ciesek.bsky.social) 5. Dezember 2024 um 05:27
Drosten hingegen scheint einen Verbleib auf X zu befürworten. Er repostet ein Statement von CDU-Politiker Peter Altmaier: „Auf X kann man sein oder nicht. R.Habeck hat Twitter verlassen & ist zurückgekehrt, A. Merkel war nie hier, viele twittern, anderen ist es egal. Doch zu glauben, dass der Weggang von einigen was ändert, ist naiv. Will man es mit Trump & Co aufnehmen, dann hier & nirgendwo sonst!“
Amrei Bahr hingegen freue sich über jeden einzelnen X-Ausstieg. Viele Wissenschaftler*innen und Wissenschaftskommunikator*innen haben sich abgemeldet oder denken über einen Ausstieg nach, insbesondere nach dem #eXit, einem kollektiven Ausstieg aus X, der Mitte November von Journalist*innen initiiert wurde. „Mir steht dabei deutlich vor Augen, was diese Plattform noch anrichten wird, wenn sie weiter breit genutzt wird. Ich denke an ihr demokratiezersetzendes Potential.“ Die Juniorprofessorin für Philosophie der Technik und Information an der Universität Stuttgart fordert auch von Hochschulen, sich von X zurückzuziehen.
Ob auf X noch gute Wisskomm möglich ist, darüber spricht David Kaldewey nicht in seiner Keynote. (Soziale) Medien könnten aber eine „Krise der Faktizität“ befeuern. Eine Polarisierung gehe dabei aber meist von mehreren Seiten aus, auch von Akteuren mit vermeintlich „guten Absichten“, so Kaldewey. Daher bearbeite „gute Wisskomm“ die Krise der Faktizität, indem sie diese verständlich macht und sich traut, kritisch im Blick auf die Wissenschaft selbst zu sein. Schlechte Wisskomm hingegen spiele das Spiel einfach mit und befeuere dadurch die Krise.