Wie kommunizieren Journalist*innen wissenschaftliche Unsicherheit? Was weiß die Forschung über Kommentare zu journalistischen Nachrichten-Artikeln? Und wie kritisch ist Wissenschaftsjournalismus in Saudi-Arabien?
Kurz vorgestellt: Neues aus der Forschung im Juli 2024
In unserem monatlichen Forschungsrückblick besprechen wir aktuelle Studien zum Thema Wissenschaftskommunikation. Diese Themen erwarten Sie in der aktuellen Ausgabe:
- Nicht nur während der Coronapandemie war die Kommunikation von wissenschaftlicher Unsicherheit eine Herausforderung. Ein Team von Forscherinnen hat untersucht, wie Journalist*innen in den USA damit umgegangen sind.
- Warum blickt die Forschung auf Nutzer*innenkommentare zu Nachrichten-Artikeln – und welche Ergebnisse gibt es bisher? Forscher*innen haben einen systematischen Überblick vorgelegt.
- Berichten Wissenschaftsjournalist*innen in Saudi-Arabien kritisch und unabhängig? Das haben zwei Forscher anhand von Interviews und Zeitungsartikeln untersucht.
- In der Rubrik „Mehr Aktuelles aus der Forschung“ geht es unter anderem um „SciArt“ und Wissenschaft als Poesie.
Wie kommunizieren Journalist*innen wissenschaftliche Unsicherheit?
Unsicherheit ist ein wesentlicher Bestandteil wissenschaftlichen Arbeitens. Es ist wichtig, das zu kommunizieren, um ein Verständnis für bestimmte Ergebnisse und Entscheidungen entwickeln zu können. Wie haben Journalist*innen in der Coronapandemie diese Aufgabe gemeistert? Um das herauszufinden, hat Kelsey Mesmer von der Saint Louis University mit M. Rosie Jahng, Jill Wurm und Najma Akther von der Wayne State University Interviews mit Journalist*innen aus den USA geführt und journalistische Berichterstattung untersucht. Dabei konzentrieren sie sich auf ein bestimmtes Ereignis: den Zeitraum, in dem der Impfstoff von Johnson & Johnson ausgesetzt wurde, um aufgetretene Nebenwirkungen zu untersuchen.
Methode: Zeitungsjournalist*innen aus den USA, die bis zum Zeitpunkt der Interviews im August 2022 kontinuierlich über die Covid-19-Pandemie berichtet hatten, wurden dazu befragt, wie sie mit wissenschaftlicher Unsicherheit umgingen. Insgesamt wurden 116 Journalist*innen kontaktiert, von denen neun an der Studie teilnahmen. Drei von ihnen hatten schon vor der Pandemie über Gesundheitsthemen berichtet. In den Telefon- oder Zoom-Interviews wurden die Teilnehmenden unter anderem dazu befragt, wie sie wissenschaftliche Unsicherheiten vermittelten und sich an verschiedene Phasen der Pandemie erinnerten. Die Interviews wurden mit qualitativen Kodierungstechniken analysiert.
Die Forscherinnen verglichen die Ergebnisse der Interviews mit denen der Inhaltsanalyse. Sie bezogen sich bei der Analyse auf vier Typen von Unsicherheits-Frames, die Journalist*innen in ihrer Arbeit verwenden12: (1) defizitäre Unsicherheit betont einen bekannten Mangel an Wissen, zum Beispiel weil ein Thema noch neu ist, (2) technische Unsicherheit konzentriert sich auf Messfehler oder andere Arten von methodischen Beschränkungen, (3) wissenschaftliche Unsicherheit bezieht sich auf die Möglichkeit, dass sich das Wissen durch zukünftige Forschung verändert und (4) Konsens-Unsicherheit unterstreicht Meinungsverschiedenheiten zwischen Expert*innen.
Ergebnisse: Die Forscherinnen identifizierten auf Grundlage ihrer Interviews drei Phasen in der Berichterstattung:
- Eile und Nachplappern
Zu Beginn der Pandemie fühlten sich die interviewten Journalist*innen von der Menge der Informationen überfordert. Auch die Informationen, die sie von Behörden erhielten, seien mit Unsicherheit behaftet gewesen. Das führte dazu, dass sie häufig Standpunkte unhinterfragt wiedergaben – im Wesentlichen in Form eines „Er-sagte/sie-sagte“-Journalismus. Eine Journalistin berichtete, dass sie frustriert war, weil sich Themenvorschläge, die sich auf diese Unsicherheit bezogen, abgelehnt wurden. Stattdessen wurden einfach offizielle Zahlen reproduziert.
Journalist*innen, die nicht aus der Wissenschaft oder dem öffentlichen Gesundheitswesens kamen, waren weniger skeptisch gegenüber den Informationen von Behördenvertreter*innen. Sie wurden bei Pressekonferenzen zu „glorifizierten Protokollant*innen“, die nachplapperten statt zu analysieren. Ein Journalist merkte selbstkritisch an, dass er Fehlinformationen eines umstrittenen Arztes und Impfgegners einfach wiedergegeben habe.
(2) Erläuternder und investigativer Journalismus
Viele Interviewte gaben an, dass sie nach der ersten Welle der Pandemie in der Lage gewesen seien, stärker in die Analyse zu gehen. Dies gilt besonders für Journalist*innen, die auch vor der Pandemie schon über Wissenschaft berichtet hatten, sowie für Freiberufler*innen, die mehr Zeit und Energie auf eine Geschichte verwenden konnten. Datenjournalist*innen konnten in dieser Phase auch mehr investigative Projekte in Angriff nehmen. Eine Datenjournalistin versuchte zu erklären, dass sich Wissenschaft ständig weiterentwickle und bezeichnete dies als wichtigen Schritt gegen Fehlinformation. Die Interviewten griffen in ihren Artikeln sowohl technische als auch wissenschaftliche Unsicherheitsfaktoren auf.
(3) Wahrgenommene Einigung auf wissenschaftliche Begriffe
Im zweiten Jahr der Pandemie legten die Journalist*innen nicht mehr so viel Wert auf wissenschaftliche Hintergründe und die Erklärung von Begriffen. Teilweise verlinkten sie auf Studien, die Leser*innen selbst nachlesen konnten. Selbstkritisch gab eine Journalistin an, dass die Journalist*innen nicht mehr über Impfstoffe berichten würden, obwohl es immer noch Skepsis in Bezug auf deren Sicherheit und Wirksamkeit gäbe. Teilweise hielten die interviewten Journalist*innen ihre Leserschaft für wissenschaftlich sehr versiert und glaubten deshalb, dass es nicht nötig sei, bestimmte Fakten immer wieder zu erklären.
Bei der Inhaltsanalyse der Artikel zur Impfstoff-Pause zeigte sich, dass fast 93 Prozent Erklärungen für den Stopp enthielten. 99 Prozent lieferten auch Belege für die allgemeine Wirksamkeit des Impfstoffs. Mitarbeitende des öffentlichen Gesundheitswesens wurden am häufigsten zitiert. Die meisten Artikel nutzten als Erklärung den Frame „defizitäre Unsicherheit“ knapp zehn Prozent verwiesen auf Konsens-Unsicherheit und ein Artikel auf „wissenschaftliche Unsicherheit“.
Schlussfolgerungen: Zu Anfang der Pandemie agierten die Journalist*innen eher als Protokollant*innen offizieller Verlautbarungen denn als kritische Beobachter*innen. Das ist aus Sicht der Forscherinnen kein überraschendes Ergebnis, obwohl kritischere und tiefergehende Analysen wünschenswert wären. Die Veränderungen in der Berichterstattung über wissenschaftliche Unsicherheit wurden vor allem durch die zunehmende Vertrautheit mit Corona getrieben. Dies führte zuerst dazu, dass Journalist*innen in die Lage versetzt wurden, kritischere Fragen zu stellen. Später führte es dann eher zu Ermüdungserscheinungen und einem Laisser-faire-Ansatz.
Die Ergebnisse der Inhaltsanalyse deuten laut der Forscherinnen auf eine Dissonanz zwischen den normativen Erwartungen an Wissenschaftsjournalist*innen und der tatsächlichen Berichterstattung hin. So bewerteten Wissenschaftler*innen die Impfstoffpause zwar positiv, aber in der öffentlichen Meinung sei es zu einem spürbaren negativen Umschwung gegenüber dem Impfstoff gekommen. Laut der Interviews fällt die Impfstoffpause in eine Zeit, in der die Aufmerksamkeit der Journalist*innen für wissenschaftliche Unsicherheiten abnahm. Womöglich hätte der Journalismus aber weiterhin Grundlagen vermitteln sollen, überlegen die Forscherinnen.
Die Ergebnisse der Studien zeigen, dass die meisten Befragten über keine wissenschaftliche Ausbildung verfügten. Die Forscherinnen plädieren deshalb dafür, dass Journalist*innen das eigene Wissen durch Austausch mit Wissenschaftler*innen erweitern sollten. Sie raten auch, sich Modelle des Wissenschaftsjournalismus zu vergegenwärtigen, darunter die traditionelle Funktion der Wissensvermittlung als Grundlage für die Berichterstattung über wissenschaftliche Unsicherheiten. Auch mögliche Backfire-Effekte sollten in der Ausbildung berücksichtigt werden. So könnte sie Berichterstattung über Unsicherheit beispielsweise dazu führen, dass Menschen sich mit einer Fehlinformation vertrauter machen als mit den Fakten. Auch müssen angehende Wissenschaftsjournalist*innen lernen, kritisch mit Daten umzugehen und wissenschaftliche Fachartikel zu lesen.
Einschränkungen: Die Studie hat sich nur mit Zeitungs- und Digitaljournalist*innen beschäftigt. Um ein breiteres Bild über den Umgang mit Unsicherheiten zu bekommen, könnte eine größere Stichprobe, die auch Radio- und Fernsehjournalist*innen umfasst, aufschlussreich sein.
Mesmer, K., Jahng, M. R., Wurm, J., & Akther, N. (2024). “Glorified Minute Takers”: Journalists’ (Mis)handling of Scientific Uncertainty During the COVID-19 Pandemic. Science Communication, 0(0). https://doi.org/10.1177/10755470241261337
Respektlosigkeit im Fokus: Forschung zu Nutzer*innenkommentaren
Kommentare von Leser*innen journalistischer Artikel sind ein beliebter Untersuchungsgegenstand. Häufig stehen dabei unhöfliche und respektlose Online-Kommentare („incivility“) im Fokus. Welche Themen werden noch erforscht? Und an welchen Stellen gibt es womöglich blinde Flecken? Einen systematischen Überblick über die Studienlage zu Nutzer*innen-Kommentaren, die sich auf Nachrichten-Artikel beziehen, haben Emily Kubin, Pascal Merz und Christian von Sikorski von der Rheinland-Pfälzischen Technischen Universität Kaiserslautern-Landau zusammen mit Mariam Wahba, Cate Davis und Kurt Gray von der University of North Carolina at Chapel Hill erarbeitet.
Methode: Die Autor*innen geben einen quantitativen Überblick über den Stand der Forschung zu nachrichtenbezogenen Nutzer*innenkommentaren und berücksichtigen dabei die zeitliche Entwicklung, die Art der Studien und die verwendeten Methoden. Zum anderen untersuchten sie mit qualitativen Methoden, was die Studien über die Kommentare aussagen – in Bezug auf den Inhalt, damit zusammenhängende Faktoren und ihre Wirkung.
Ergebnisse: Es zeigt sich im Zeitverlauf ein wachsendes Interesse an der Analyse nachrichtenbezogener Nutzer*innen-Kommentare. Der früheste Artikel wurde 2008 veröffentlicht, seitdem ist die Zahl der Veröffentlichungen exponentiell gestiegen. Die Forschung wurde mehrheitlich in westlichen Ländern durchgeführt – vor allem in den USA (100 Artikel), Deutschland (46) und Südkorea (18). Insgesamt ist die Vielfalt an Ländern, in denen die Studien durchgeführt wurden, groß (z. B. Indien, Israel, China, Russland und Chile), aber nur wenige beziehen sich auf den globalen Süden.
Knapp 53 Prozent der Studien verwendeten Inhaltsanalysen als Methode, knapp 44 Prozent Experimente und knapp 3 Prozent Umfragen. Fast 90 Prozent der Studien betrachteten Nachrichtenartikel, einige auch Videos (zum Beispiel Fernsehnachrichten). Rund 72 Prozent nahmen ausschließlich traditionelle Medien in den Blick, rund 19 Prozent soziale Medien (zum Beispiel Nachrichten-Artikel, die auf Facebook gepostet wurden) und knapp sieben Prozent berücksichtigten beides. Die meisten Studien, die sich mit sozialen Medien befassten, konzentrierten sich auf Facebook. Rund 15 Prozent befassten sich mit YouTube, neun Prozent mit Twitter und rund drei Prozent (zwei Studien) mit Instagram.
Ein beträchtlicher Teil (29 Prozent) untersuchte das Thema Unhöflichkeit/Respektlosigkeit („incivility“) in den Kommentaren. Insgesamt wurde eine Vielzahl von Themen diskutiert, darunter häufig brisante wie der Klimawandel, Waffenpolitik oder Einwanderung. Viele Studien befassten sich mit gesundheitsbezogenen Themen wie Impfungen oder psychischer Gesundheitsversorgung oder mit Berichterstattung über Wissenschaftskommunikation und Bildung.
Einige Studien stellten fest, dass Kommentator*innen oft Themen diskutieren, die scheinbar nichts mit dem eigentlichen Nachrichteninhalt zu tun haben, andere Forschungsarbeiten widersprechen diesem Ergebnis. Einige Wissenschaftler*innen haben untersucht, was Menschen zum Kommentieren veranlasst und welche Faktoren das Kommentarverhalten prägen. Es wurde festgestellt, dass Nachrichten zu politischen und sozialen Themen besonders häufig kommentiert werden5 und dass Stimmungen und polarisierende Sprache in den Artikeln das Kommentarverhalten beeinflussen6.
Zu den Auswirkungen von Nachrichtenplattformen oder -quellen gibt es weniger Untersuchungen. Einige Studienergebnisse deuten darauf hin, dass Nachrichtenplattformen mit größerer Reichweite eher über Kommentarbereiche verfügen und dort stärker kommentiert wird. Mehre Studien stellen fest, dass die Kommentare Ansichten aus den kommentierten Artikeln widerspiegeln, andere kommen jedoch zum Ergebnis, dass sich Kommentare auch gegen die mediale Darstellung wenden können.
Auch die Unterschiede im Kommentarverhalten politischer Gruppierungen wurde untersucht. Liberale waren demnach eher bereit, in ihren Kommentaren übergreifende Begründungen und Fragen einzubringen als Konservative.7 Mehrere Wissenschaftler*innen haben gezeigt, dass Kommentare auch als Instrument zur Infragestellung der öffentlichen Meinung genutzt werden kann. Populistische Themen8 und kontroverse Kommentare9 regen andere zum Kommentieren an. Nur wenige Studien untersuchten bisher, welche Faktoren sich auf die Nutzerkommentare auswirken.
Auch die Auswirkungen von Moderation wurde untersucht. Wenn Kommentarspalten moderiert wurden, führte das weniger wahrscheinlich dazu, dass Inhalte des kommentierten Artikels als unausgewogen wahrgenommen werden. Eine Studie (Yeo et al., 2019), gibt jedoch Hinweise darauf, dass dies nur bei maschineller – nicht bei menschlicher – Moderation der Fall ist.
Nur wenige Studien befassten sich mit der Frage, wie Kommentare die Wahrnehmung von Nachrichten über einen längeren Zeitraum beeinflussen. Untersuchungen haben ergeben, dass Leser*innen Kommentare, die ihren Überzeugungen entsprechen, positiver bewerten11. In nur wenigen Experimenten wurde untersucht, wie sich die Gestaltung der Online-Kommentarbereiche auswirkt. Einige Forschungsarbeiten deuten darauf hin, dass Leser*innen, die wissen, dass Kommentarspalten moderiert und Kommentare gelöscht werden, dem Inhalt von Artikeln mit geringerer Wahrscheinlichkeit zustimmen.12 Wenig Forschung gibt es zum Thema Anonymität. Eine Studie zeigt aber, dass Menschen ihre Ansichten eher in Kommentarspalten teilen, wenn diese anonym sind.13
Schlussfolgerungen: Die Autor*innen beobachten eine starke Zunahme an Studien zum Thema, aber einen Mangel an vergleichenden Studien und solchen, bei denen Veränderungen über längere Zeiträume in den Blick genommen werden. Sie regen dazu an, langfristiger angelegte und stärker kulturübergreifende Studien (auch mit Blick auf den globalen Süden) durchzuführen. Weniger als 20 Prozent der Studien nahmen Kommentare auf Social Media in den Fokus. Nur zwei widmeten sich Instagram und keine TikTok. Die Autor*innen empfehlen deshalb, dass soziale Medien und videobasierte Plattformen in der Forschung stärker berücksichtigt werden sollten. Auch der Einfluss des Plattform-Designs müsse besser untersucht werden, insbesondere im Hinblick auf die Rolle der Anonymität.
Die Ergebnisse der Überblicksstudie geben Hinweise zur Ambivalenz der Moderation von Kommentaren. Denn einige Studienergebnisse zeigen, dass das positive Ergebnisse in Hinblick auf die Bewertung von Artikeln haben kann. Andere zeigen jedoch, dass Nutzer*innen frustriert sein können, wenn Kommentare gelöscht werden. Die Autor*innen weisen darauf hin, dass Studienergebnisse nahelegen, dass der Einsatz künstlicher Intelligenz ein vielversprechender Ansatz zur Moderation sein könnte. Auch in diesem Bereich sehen sie weiteren Forschungsbedarf.
Die Einführung von Kommentarbereichen sei vor allem zu Beginn aus demokratietheoretischer Sicht begrüßt worden, schreiben die Autor*innen. Allerdings deuten aktuelle wissenschaftliche Erkenntnisse auch auf negative Auswirkungen hin. Beispielsweise könne Misstrauen geschürt und ein respektloser Kommunikationsstil gefördert werden. Auch hierbei identifizieren die Autor*innen eine Forschungslücke: Es werde viel zu wenig untersucht, wie Menschen motiviert werden können, weniger unhöflich zu sein.
Einschränkungen: Die Untersuchung bezieht sich nur auf von Expert*innen begutachtete quantitative wissenschaftliche Artikel, nicht aber auf qualitative Studien oder Konferenz- oder Theoriebeiträge. Dadurch wird nicht die gesamte Bandbreite der wissenschaftlichen Forschung zum Thema abgedeckt.
Kubin E., Merz P., Wahba M., Davis C., Gray K. and von Sikorski, C. (2024) Understanding news-related user comments and their effects: a systematic review. Front. Commun. 9:1447457. doi: 10.3389/fcomm.2024.1447457
Unabhängig und kritisch? Wissenschaftsjournalismus in Saudi-Arabien
Wissenschaftsjournalismus soll wissenschaftliche Inhalte verständlich vermitteln. Er hat aber auch die Funktion, Wissenschaft kritisch zu hinterfragen. Die Journalist*innen agieren im besten Fall als Multiplikator*innen, aber auch als differenzierte und prüfende Beobachter*innen. Inwiefern aber hängt es vom politischen und gesellschaftlichen Kontext ab, ob diese normativen Erwartungen ans Berufsbild erfüllt werden können? Das haben Abdullah Alhuntushi von der King Khalid Military Academy und Jairo Lugo-Ocando von der University of Sharjah am Beispiel von Saudi-Arabien untersucht. Ihr Ziel war herauszufinden, inwiefern Wissenschaftsjournalist*innen dort unabhängig und kritisch berichten.
Methode: Die Forscher kombinierten eine Inhaltsanalyse von wissenschaftsjournalistischen Artikeln mit Daten aus zwölf Interviews mit Wissenschaftsjournalist*innen. Dazu sammelten sie in den Monaten Januar, Mai, September und Dezember 2021 insgesamt 174 Artikel über Gesundheit und Technologie aus den einflussreichsten Printzeitungen des Landes. Die Autoren schlossen dabei Artikel über Covid-19 aus, weil sie das Thema als besonderen Fall wissenschaftlicher Berichterstattung einstuften. Sie identifizierten die Art und Häufigkeit der in den Artikeln verwendeten Quellen als Indikator für Vielfalt und Pluralität in der Berichterstattung.
Die quantitativen Erkenntnisse aus der Inhaltsanalyse wurden durch die Analyse von qualitativen Interviews ergänzt. Die Interviewpartner*innen wurden anhand der untersuchten Zeitungsartikel identifiziert und ausgewählt. Die meisten von ihnen hatten Abschlüsse in den Bereichen Kunst, Geisteswissenschaften und Sozialwissenschaften, eine*r in Naturwissenschaften.
Ergebnisse: Die Ergebnisse deuten darauf hin, dass die wissenschaftsjournalistische Berichterstattung in Saudi-Arabien dazu neigt, Stimmen von Behörden und Unternehmen zu reproduzieren. Im Gesundheitsbereich stellten die Forscher eine besonders starke Abhängigkeit von Regierungsquellen fest (fast 70 Prozent der zitierten Quellen). Bei den Artikeln zu Technologiethemen machten offizielle Quellen einen weitaus geringeren Anteil aus (knapp 13 Prozent). Dies sollte laut der Forscher jedoch nicht als Indikator für eine größere Autonomie interpretiert werden. Es sei eher ein Hinweis darauf, dass Technologiethemen stattdessen von Unternehmensinteressen dominiert würden.
Wissenschaftliche Expert*innen standen mit 36 Prozent der zitierten Quellen an erster Stelle. 17 Prozent der Quellen gehörten zur Regierung und 29 Prozent wurden nicht erwähnt. Nicht erwähnte Quellen weisen laut der Forscher darauf hin, dass der Inhalt aus einer offiziellen Pressemitteilung stammt. Bei den Technologie-Themen dominierten Quellen aus dem Unternehmenssektor.
Die Interviews legen nahe, dass es kaum direkte Kontakte zwischen Journalist*innen und Wissenschaftler*innen gibt. Der Kontakt wird demnach über professionelle Kommunikator*innen vermittelt und begleitet. Journalist*innen sprechen zwar auch mit anderen, nicht durch offizielle Stellen vermittelte Quellen, diese nutzen sie aber eher zur Kontextualisierung und zitieren sie nicht direkt. Die Interviewpartner*innen waren sich einig, dass der freie Zugang zu wissenschaftlichen Expert*innen nicht einfach ist. Wissenschaftler*innen und andere Quellen gingen davon aus, eine Erlaubnis zu benötigen. Hinzu kommen die Abgabefristen in den Redaktionen. Wie in anderen Ländern sind auch Journalist*innen in Saudi-Arabien mit abnehmenden Ressourcen und steigenden Arbeitsbelastungen konfrontiert. Das alles führt dazu, dass sie sich häufig allein auf offizielle Regierungsmitteilungen beziehen.
Die Journalist*innen gaben an, Einzelgespräche mit Wissenschaftler*innen zu führen. Die Ergebnisse der Inhaltsanalyse aber besagen, dass die nur unter speziellen Umständen und bei bestimmten Ereignissen passiert. Die Interviewpartner gaben an, dass es ihnen schwerfalle, geeignete Gesprächspartner*innen zu identifizieren und mit ihnen in Kontakt zu treten. Alle Interviewpartner*innen forderten einen direkteren und schnelleren Zugang zu Wissenschaftler*innen. Auch gäbe es keinen unabhängigen Zugang zu Datenbanken oder Statistiken zu Gesundheits- oder Technologiethemen. Viele verwendete Daten stammen deshalb aus dem Ausland, zum Beispiel von der WHO. Auch Nachrichten von ausländischen Presseagenturen werden verwendet, weil es oft schwierig ist, geeignete lokale Quellen zu finden.
In den Interviews deutete sich an, dass Journalist*innen ihre Rolle weniger darin sehen, Wissenschaftler*innen kritisch zu hinterfragen und sich einzumischen („Sie sind die Expert*innen und sie wissen, wovon sie sprechen.“). Stattdessen begreifen sie sich als Übersetzer*innen und überlassen die Deutungshoheit offiziellen Autoritäten.
Schlussfolgerungen: Die Forscher schlussfolgern, dass Wissenschaftsjournalist*innen in Saudi-Arabien in hohem Maße von offiziellen Stellen abhängig sind. Dies sei ein Grund für die geringe Vielfalt an Quellen und alternativen Lesearten. Die Ergebnisse deuteten darauf hin, dass es der Wissenschaftsberichterstattung in Saudi-Arabien an Kritikfähigkeit mangele und die Medien nur begrenzt in der Lage seien, die Wissenschaft zur Verantwortung zu ziehen.
Einschränkungen: Die Studie stützt sich auf eine begrenzte Auswahl von Interviews und Artikeln. Die Ergebnisse spiegeln also womöglich nicht den gesamten Wissenschaftsjournalismus in Saudi-Arabien, auch nicht notwendigerweise der gesamten Region wider. Die Forscher betonen, dass die MENA-Region auf vielen Ebenen äußerst vielfältig ist.
Alhuntushi, A. and Lugo-Ocando, J. (2024). ‘Science journalism in the Kingdom of Saudi Arabia: news sources engagement and [lack of] science accountability’. JCOM 23 (05), A04. https://doi.org/10.22323/2.23050204
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