Die TU-Präsidentin Geraldine Rauch hat mit ihren Likes eine hitzige Debatte ausgelöst. Social Media beeinflusst immer mehr, was in der Öffentlichkeit diskutiert wird. Welche Gefahren birgt das für unsere Debatten?
Wie Likes den öffentlichen Diskurs verzerren
In den vergangenen Wochen kochten in Berlin die politischen Debatten hoch: Kurz nach den Studierendenprotesten an der Humboldt-Universität stand die Präsidentin der Technischen Universität, Geraldine Rauch, im Fokus, weil sie drei Gaza-bezogene Tweets geliked hat, die viele Beobachter*innen als antisemitisch einstufen. Dabei ging es insbesondere um einen Beitrag von einem fragwürdigen Troll-Account, der Fotos einer Demonstration zeigte, auf der auch ein Bild des israelischen Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu mit aufgemaltem Hakenkreuz zu sehen ist.
Rauch bat um Entschuldigung und erklärte, den Tweet wegen seines Textes geliked und das Bild, von dessen Inhalt sie sich distanziere, nicht wahrgenommen zu haben. Diese Entschuldigung war einigen lauten kritischen Stimmen nicht genug. Rauch hat schließlich nach TU-internen Diskussionen und trotz erheblichem medialen und politischen Druck entschieden, nicht zurückzutreten. Sie kündigte an, an ihren Fehlern zu arbeiten und weitere Maßnahmen gegen Antisemitismus an der TU zu planen. Die Rücktrittsforderungen ebbten auch nach ihren Erklärungen kaum ab. Der Eifer dieser Stimmen zeugt vom fragilen Zustand der öffentlichen Diskurskultur. Dabei ist es in Zeiten wachsender Polarisierung und dem Erstarken der extremen Rechten besonders wichtig, dass wir uns unsere gesellschaftliche Diskursfähigkeit bewahren.
Die Sprachlosigkeit der deutschen Debatten in Bezug auf das Thema Antisemitismus und Kritik an der Politik der israelischen Regierung bedauern internationale Beobachter*innen spätestens seit der Documenta 15 vor zwei Jahren. Die reflexartigen Reaktionen lassen darauf schließen, dass in die durch Sprachlosigkeit erzeugte Lücke eine Kultur der schnellen Reaktionen dringen kann, die die erhöhte Geschwindigkeit und Verkürzung digitaler Kommunikation imitiert. Dass auf das erste Aufbrausen, sowohl in der Presse als auch innerhalb der TU, nuancierte Diskussionen folgten, ist zwar beruhigend, täuscht aber nicht über die Gefahren der wachsenden Empörungskultur hinweg.
Eine Aufarbeitung der „Likes“, wie von Beschäftigten der TU gefordert und von Rauch versprochen, kann man nicht nur der TU, sondern uns allen wünschen, deren öffentliche Debatten zunehmend digital geführt werden und deren analoge Kommunikation immer stärker von den Logiken digitaler Kommunikation durchdrungen wird.
Die Digitalisierung unserer Debatten
Online-Interaktionen wie „Likes“ und „Retweets“ spielen eine zentrale Rolle in unserer Kommunikation, ohne dass allgemeine und grundsätzliche Einigkeit über die Regeln der digitalen Kommunikation herrscht.
Foren und soziale Medien lenken die Aufmerksamkeit von den traditionellen Zeitungen ab, und Debatten werden zunehmend von Unternehmensinteressen geprägt, ohne dass redaktionelle Standards und Faktenüberprüfung eine Rolle spielen. Zukünftig werden wir alle diese Aufgaben übernehmen müssen.
„Likes“ und „Retweets“ sind zwar einfache Handlungen, aber ihre Auswirkungen auf den öffentlichen Diskurs sind tiefgreifend. Gerade deshalb darf die Schlussfolgerung nicht sein, dass sich Menschen aus Sorge um ihre berufliche Position gänzlich aus digitalen Diskursen zurückziehen. Schon jetzt werden in Bezug auf kontroverse politische Themen Praktiken der Selbstzensur normalisiert. Damit bliebe den anti-demokratischen Kräften das Feld überlassen.
Statt den digitalen Raum anti-demokratischen Stimmen zu überlassen, müssen wir Strategien entwickeln, um die bekannten negativen Auswirkungen von Online-Interaktionen zu mindern. Wir wissen, wie wichtig Likes und Retweets sind. Der Fokus auf Engagement-Metriken begünstigt Clickbait und Inhalte, die starke emotionale Reaktionen hervorrufen, werden häufiger geliked und retweetet. Die Unmittelbarkeit dieser sozialen Interaktionen untergraben nuancierte Diskussionen und unterschlagen Ambivalenzen. Die sozialen Dynamiken von Online-Interaktionen verstärken zudem den Druck, populären Meinungen zu folgen. Ein Blick in die USA gibt einen Vorgeschmack davon, wie eine aus Filterblasen und Echokammern bestehende Diskurslandschaft aussieht und welche Folgen sie haben kann.
Es ist unser aller Aufgabe, den Versuchungen simpler Empörung und bedingungsloser Zustimmung zu widerstehen und über unsere eigenen Kommunikationsräume hinaus für eine demokratische Gesprächskultur zu sorgen.
In einem Like steckt mehr
Ein „Like“ ist eine Form der digitalen Zustimmung, mit der Nutzer*innen ihre Unterstützung oder ihr Gefallen für Inhalte ausdrücken können, ohne viele Worte zu verlieren. Der „Like“-Button, der ursprünglich auf Facebook eingeführt wurde, ist mittlerweile auf Plattformen wie Instagram, LinkedIn und X verbreitet. Auf X zeigt ein Herzsymbol einen „Like“ an. Diese Aktion ermöglicht es Nutzer*innen, schnell und unkompliziert mit Inhalten zu interagieren und ihre Sichtbarkeit zu erhöhen.
Doch die Einfachheit eines „Likes“ täuscht über seine eigentliche Komplexität hinweg. Nutzer*innen liken Beiträge aus verschiedenen Gründen: aus echter Wertschätzung, sozialer Verpflichtung oder strategischer Absicht, um Beziehungen zu pflegen. Ein „Like“ kann Zustimmung zur Botschaft des Inhalts oder Teilen des Inhalts signalisieren oder einfach die Bemühungen des Erstellers anerkennen. Die Mehrdeutigkeit eines „Likes“ führt oft zu Missverständnissen, da die Absicht hinter der Aktion nicht immer klar ist.
Ungeachtet der Motivation beeinflusst ein „Like“ die Algorithmen der Plattformen erheblich. Die Rückkopplungsschleife macht beliebte Inhalte noch sichtbarer. Diese Mechanismen verstärken bestimmte Stimmen und marginalisieren andere, oft zugunsten sensationeller oder emotional aufgeladener Inhalte statt nuancierter und durchdachter Diskussionen. Die Wissenschaftskommunikation stellt sich schon jetzt den Schwierigkeiten, die Balance zwischen der Erhöhung der Reichweite auf der einen Seite und der nötigen Tiefe auf der anderen Seite zu halten.
„Retweets sind keine Befürwortungen“
Ein „Retweet“ auf X ähnelt dem Teilen auf Facebook. Hierbei postet man den Beitrag anderer Nutzer*innen erneut für die eigenen Follower*innen. Diese Aktion verstärkt die ursprüngliche Botschaft, signalisiert Zustimmung und kann weitere Diskussionen oder Debatten anregen. Sie sind bewusster und öffentlicher als Likes, da man damit die eigene Timeline kuratiert und Nutzer*innen mit dem geteilten Inhalt verbindet.
Retweets beeinflussen die Verbreitung von Informationen erheblich. Sie sind der Hauptmechanismus für virale Inhalte. Nutzer*innen retweeten Inhalte, die sie informativ, humorvoll oder provokativ finden, um ihre Identität zu signalisieren, Gespräche zu initiieren oder Unterstützung zu mobilisieren. Retweets können auch strategisch genutzt werden, um Allianzen zu bilden oder Kritik zu äußern.
Mit dem Zusatz „Retweets sind keine Befürwortungen“ (Retweets are not endorsements) versuchen Nutzer*innen, Distanz zu geteilten Inhalten zu signalisieren, doch der Versuch einer Nuancierung ist angesichts der Logiken digitaler Plattformen oft wirkungslos.
Es ist unsere Aufgabe, an Debatten teilzunehmen und dies sorgfältig zu tun. Wir müssen unsere Quellen überprüfen und Kontext bieten. Gleichzeitig müssen wir die strukturellen Probleme der digitalen Kommunikation auch auf struktureller Ebene angehen.
Hin zu einem konstruktiven digitalen Diskurs
Seit der Übernahme von Twitter durch Elon Musk gibt es Diskussionen darüber, ob die Plattform noch zu nutzen und als Diskussionsraum gegenüber antidemokratischen Stimmen zu verteidigen ist. Oder ob man besser zu einem alternativen Anbieter wie Bluesky oder Mastodon umzieht. Eine ähnliche Diskussion ergibt sich aus der Präsenz der AfD auf TikTok.
Diese Diskussionen müssen wir weiterführen und gleichzeitig fordern, kommerzielle Kommunikationsplattformen zu regulieren. Außerdem brauchen wir dringend mehr Bildungsinitiativen zur Förderung der digitalen Kompetenz. Sie sind unerlässlich und werden nicht nur in Schulen, sondern auch in Universitäten und Erwachsenenbildung dringend benötigt. Auch Erwachsene müssen Ambiguitätstoleranz üben und ihre Kommunikation mit Umsicht gestalten.
Die Balance zwischen der Erhöhung der Reichweite auf der einen Seite und der nötigen Tiefe auf der anderen Seite wird weiter eine Herausforderung bleiben. Beim Balancieren tun wir gut daran, gleichzeitig zügig und behutsam zu sein. Sicherheitsnetze gibt es für unsere Demokratie nicht.
Die redaktionelle Verantwortung für diesen Gastbeitrag lag bei Anna Henschel. Gastbeiträge spiegeln nicht zwangsläufig die Meinung unserer Redaktion wider.