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„Wissenschaft ist als System wieder politisch aufgeladener“

Durch soziale Medien sind wissenschaftliche Informationen heutzutage offener und zugänglicher. Welche Folgen eine intensive Vernetzung von Wissenschaftler*innen, Bürger*innen und politischen Akteuren nach sich zieht, erforscht Katharina Kleinen-von Königslöw. Im Interview spricht die Professorin für Journalistik über gefährliche Sogwirkungen, Überforderung und eine zunehmende Politisierung von Wissenschaft.

Frau Kleinen-von Königslöw, ist Wissenschaft heute politischer als früher?

Wissenschaft ist schon häufig politisiert gewesen. Das ist nichts Neues. Ich würde nur argumentieren, dass die politische Komponente heute besonders für die Bevölkerung sichtbarer ist, als es vielleicht früher war, weil wir über den digitalen Raum und insbesondere durch soziale Medien stärker vernetzt sind.

Kleinen-vonKönigslöw
Katharina Kleinen-von Königslöw
ist Professorin für Journalistik mit Schwerpunkt auf digitalisierte Kommunikation und Nachhaltigkeit an der Universität Hamburg.Sie erforscht die Perspektive der Bürger*innen auf politische Informationen in sozialen Netzwerken, unter anderem auch zu Verschwörungsmythen und zur Debattenkultur. Foto: UHH/Sommer

Welche Risiken gehen mit dieser stärkeren Vernetzung einher?

In meiner Forschung beschäftige ich mich mit Nachrichten– und Informationsnutzung in den sozialen Medien. Wissenschaftliche Informationen sind heutzutage offener und zugänglicher. Anders als früher, wo das, was man über die Wissenschaft wusste, an zentralen Stellen vermittelt wurde, sei es in der Schule oder an der Universität. In vielerlei Hinsicht kann dies eine Überforderung hervorrufen, weil Bürger*innen viel mehr Orientierungskompetenzen bräuchten, um zu entscheiden: Ist das eine verlässliche Quelle? Ist das wirklich eine dem wissenschaftlichen Standard entsprechende Studie? Ist das Meinung oder Wissenschaft? Das ist etwas, was um ehrlich zu sein, selbst Wissenschaftler*innen schwerfällt. Spätestens in dem Moment, wenn sie sich außerhalb ihres eigenen Forschungsfeldes bewegen.

Können Sie ein Beispiel nennen?

Im Zuge der Pandemie ist mir immer stärker aufgefallen, wie stark Wissenschaftler*innen – und besonders Wissenschaftler – anfingen, sich in Bereiche die nicht in ihrer Expertise liegen, einzumischen. Beispielsweise modellierten viele Wissenschaftler*innen Corona Fallzahlen, auch wenn sie nicht den entsprechenden medizinischen Hintergrund oder das Verständnis von Infektionsentwicklungen besaßen.

Natürlich dürfen auch Wissenschaftler*innen eine Meinung zu politischen Themen und zu beispielsweise Corona-Maßnahmen haben. Aber wir neigen dazu, wenn wir uns außerhalb unseres Forschungsfeldes bewegen, unser eigenes Wissen zu überschätzen. Zudem schlägt, je mehr wir uns außerhalb unserer eigenen Kompetenzen bewegen, der Selbstbestätigungs-Bias zu. Dann gefallen uns die Ergebnisse der Wissenschaftler*in besser, die auch unseren persönlichen Positionen naheliegen. Und oft wird nicht bedacht, dass dies für Bürgerinnen und Bürger eine deutliche Überforderung darstellt, einzuschätzen zu können: „Weiß der wovon er spricht? Hat sie tatsächlich in diesem Feld geforscht?” Ich glaube, wir haben als Wissenschaftler*innen in der Bevölkerung noch einen Bonus: Unser Wort hat in einer Debatte mehr Gewicht. Ich finde, dass wir mit diesem Bonus oder mit dieser Macht, die wir haben, verantwortlich umgehen sollten.

Wie kann Wissenschaftler*innen ein verantwortlicher Umgang mit diesem „Bonus“ gelingen?

Wissenschaftler*innen sollten sich immer wieder die Grenzen ihrer eigenen Expertise klar machen. Ich selbst rezipiere beispielsweise den Forschungsstand zum Klimawandel und habe viel Kontakt zu Klimawissenschaftler*innen.

„Wissenschaftler*innen sollten sich immer wieder die Grenzen ihrer eigenen Expertise klar machen." Katharina Kleinen-vonKönigslöw
 Trotzdem stehe ich in dem Moment, in dem ich mehr Klimapolitik fordere, als Bürgerin da, die Sorge darüber hat, wie sich unser Lebensraum in den nächsten Jahren verändern wird. Man muss also sehr explizit klar machen, dass es ein Forschungsbereich, in dem ich mich vielleicht ein bisschen auskenne, aber es ist nicht eben meine eigene Forschung.

Sie bewerten auch die Logiken von sozialen Medien kritisch, beispielsweise, dass Algorithmen Emotionalität und Kontroverse belohnen. Sie raten dazu, dass sich Wissenschaftler*innen dem entziehen und dieser Zuspitzung ihrer Ergebnisse nicht zu sehr nachgeben sollten. Warum?

Es geht darum, sich in der Praxis immer wieder die Grenzen und die Probleme, die mit den sozialen Medien verbunden sind, bewusst zu machen. Gerade in der Wissenschaftskommunikation brauchen wir Vereinfachung, manchmal Zuspitzung, wir müssen Themen auf den Punkt bringen und zudem schnell reagieren können. Soziale Medien haben das Problem, dass sie bei Wissenschaftler*innen genau wie bei allen anderen Menschen, eine Sogwirkung entfalten können und wir uns von Debatten mitreißen lassen. Ich glaube, wir haben als Wissenschaftler*innen eine besondere Verantwortung, das regelmäßig zu reflektieren und sich zu fragen: „Was mache ich hier eigentlich gerade? Tue ich der Sache wirklich noch gut, wenn ich mich in einen wüsten Schlagabtausch mische.“ Ich würde immer an das Verantwortungsbewusstsein und die Vorbildfunktionen, die wir als Wissenschaftler*in haben, appellieren. Man muss sich selbst immer wieder reflektieren: „Warum spitze ich jetzt zu? Damit ich meine Ergebnisse klarer vermitteln kann? Oder geht es mir nur noch um den politischen Punkt?”

Sie sagen auch, dass eine vermehrte Politisierung der Wissenschaft problematisch für die Politik ist. Warum?

Politik schmückt sich gerne mit wissenschaftlicher Expertise. Für den Großteil der Bevölkerung ist allerdings gar nicht sichtbar, was an Beratungsverträgen und Thinktanks, die die politischen Parteien und politischen Akteure im Hintergrund beraten, passiert. Dadurch verliert es den legitimierenden Charakter, weil es nicht mehr die Wissenschaft, sondern die Expertise ist, die ich mir als Politikerin gekauft habe. Die möglicherweise allen wissenschaftlichen Kriterien entspricht, aber doch habe ich sie bezahlt, die Wissenschaft.

„Soziale Medien haben das Problem, dass sie bei Wissenschaftler*innen genau wie bei allen anderen Menschen, eine Sogwirkung entfalten können und wir uns von Debatten mitreißen lassen." Katharina Kleinen-vonKönigslöw

Was wäre ein Ausweg, um das Vertrauen in Wissenschaft zu fördern?

Ich finde, wir brauchen mehr Transparenz, damit Bürger*innen verstehen, wer die Wissenschaftler*innen sind, die die Politik beraten und warum diese ausgewählt wurden.

Zudem denke ich, damit Bürgerinnen das Vertrauen in die wissenschaftliche Expertise nicht verlieren, sollten sowohl die Politik als auch die wissenschaftlichen Akteure verantwortlich damit umgehen. Sie sollten die Grenzen der Expertise aufzeigen und sachlich mit anderen Stimmen aus der Wissenschaft, die zunächst nicht der eigenen Meinung entsprechen, umgehen. Ich glaube, die Mehrheit der Bevölkerung befürwortet es, wenn sich Politik auf wissenschaftliche Forschung stützt. Es darf aber nicht so wirken, als würde die Wissenschaft instrumentalisiert werden.

Sie sprechen auch von einer Selbstpolitisierung der Wissenschaft durch soziale Medien. Was ist damit gemeint?

Wissenschaft ist als System wieder politisch aufgeladener. Damit ist gemeint, dass die bestehenden Machtverhältnisse stärker kritisiert und hinterfragt werden. So wurde durch Wissenschaftler*innen selbst in den sozialen Medien mit  #ichbinhanna auf die teils prekären Arbeitsverhältnisse aufmerksam gemacht. Kritisiert wird auch mehr, inwiefern diese bestehenden Machtverhältnisse Ausgrenzungsprozesse gegenüber Frauen und Minderheiten wie People of Color fördern.

Wie bewerten Sie diese Selbstpolitisierung?

Dass Wissenschaft in der Öffentlichkeit immer stärker als politisches Thema sichtbar wird, ist einerseits gut, denn nur so können Veränderungen angestoßen werden. Besonders mit Blick auf die teils prekären Beschäftigungsverhältnisse in der Wissenschaft sind endlich Dinge in Bewegung. Aber ich sehe auch die Schattenseiten davon, weil sich Wissenschaft auf eine gewisse Art entzaubert und auch angreifbar macht. Wenn Bürger*innen über soziale Medien die Debatten um die fehlende Vielfalt auf Professuren, in Sammelbänden oder Diskussionspanelen von außen mitverfolgen, kann beispielsweise der falsche Eindruck entstehen, Hautfarbe und Geschlecht seien ein wichtigeres Bewertungskriterium als wissenschaftliche Expertise und Erfahrung. Und dann nutzen Bürger*innen ihrerseits Geschlecht und Hautfarbe als Argumente, um bestimmte wissenschaftliche Positionen abzulehnen – denn diese Kategorien können sie leichter selbst beurteilen als die wissenschaftliche Qualität.