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Produktive Störungen in der Wissenschaftskommunikation

Jede*r kennt Hürden, die in der Wissenschaftskommunikation auftreten. Möglicherweise sind Rezipient*innen desinteressiert, die Organisationsstrukturen hinderlich oder Themen zu vielschichtig. Das Team von „Disrupt!Research“ beleuchtet im Gastbeitrag das überraschende Potenzial, das in solchen Störungen stecken kann.

Wie kann Wissenschaftskommunikation gelingen, wenn ständig etwas im Weg steht? Können Störungen sogar produktiv sein, um über disziplinäre und universitäre Grenzen hinaus Wissen zu produzieren und zu besprechen? Das sind die Fragen, die bei „Disrupt!Research“ im Mittelpunkt stehen. In unserer Gruppe arbeiten Literatur- und Kulturwissenschaftler*innen, Soziolog*innen, Pädagog*innen und Designer*innen zusammen, um Formate auszuprobieren, die Störungen nicht vermeiden wollen, sondern die von Störungen ausgehen. Das können Missverständnisse, unterschiedliche Wissensstände oder Vorstellungen davon sein, wie „Wissenschaft“ funktioniert.

„Auch der Umgang mit Desinteresse, bürokratischen Strukturen und die Notwendigkeit, eine gemeinsame Sprache und gemeinsame Ziele zu finden, sind zentral.“ Disrupt!Research
Auch der Umgang mit Desinteresse, bürokratischen Strukturen und die Notwendigkeit, eine gemeinsame Sprache und gemeinsame Ziele zu finden, sind zentral. Bei Disrupt!Research thematisieren wir ausgehend davon Veränderungen von Städten unter den Bedingungen des Klimawandels, Publikationspraktiken und Begegnungen zwischen Wissenschaftler*innen und das Zusammentreffen von Wissenschaft und Gesellschaft. 

Unsere Forschungsgruppe „Disrupt!Research“ ist Teil einer Exzellenzmaßnahme der TU Dresden, die Disruption aus einer Bandbreite von Perspektiven untersucht. Wissenschaftskommunikation ist dabei ein zentrales Thema, weil wir einerseits daran interessiert sind, Fragen und Ergebnisse zu teilen. Andererseits, weil wir ständig damit beschäftigt sind Wege zu finden, mit größeren und kleineren Unterschieden umzugehen, um die gemeinsame Arbeit voranzutreiben. Diese doppelte Perspektive – Wissenschaftskommunikation als notwendiges Instrument und als Gegenstand – ist es, die unser Projekt erproben und entwickeln will.

Das transformierende Potential der Disruption

Während Komplexitätsreduktion eine der Voraussetzungen jeder wissenschaftlichen Tätigkeit und insbesondere der Wissenschaftskommunikation ist, bleibt die Diversität von Akteur*innen und Gegenständen eine zentrale Herausforderung. Aus der Konfrontation von Erfahrungen, Erwartungen und ganz unterschiedlichen Herangehensweisen entstehen Störungen, die besonders dann, wenn die Grenzen von Disziplinen oder gesellschaftlichen Teilbereichen überschritten werden, die Kommunikation erschweren können. Aber genau darin liegt auch das Potenzial.

„Wenn ich mich mit meinem Gegenüber erstmal über Grundsätzliches verständigen muss, kostet das zwar Zeit, aber es ergeben sich Gelegenheiten, sich über die eigene Vorgehensweise klar zu werden.“ Disrupt!Research
Denn wenn ich mich mit meinem Gegenüber erstmal über Grundsätzliches verständigen muss, dann kostet das zwar Zeit (und manchmal auch Nerven), vor allem aber ergeben sich dabei unerwartete Gelegenheiten, sich auch selbst über die eigene Vorgehensweise klar zu werden. 

Gerade bei Fragen und Themen, die potenziell viele Menschen betreffen und großes transformatives Potenzial haben, müssen sich Wissenschaftler*innen selbst als disruptive Akteur*innen in den Blick nehmen. Expert*innen sollten Wege finden, transparent, flexibel und partizipativ, nicht zuletzt aber wertschätzend zusammen zu arbeiten, um Erkenntnisse in gesellschaftlichen Austauschprozessen zu vermitteln. Das bedeutet auch, Impulse und Interventionen aufzunehmen, die die eigene Forschungspraxis „stören“, ohne sie bloß wegzudiskutieren.

Die Teilprojekte

Die zentralen Fragen des Projekts lauten: Wie organisiert sich Wissenschaftskommunikation hinsichtlich ihrer konstitutiven Disruptivität? Wie sehen Formate aus, die dieser Disruptivität Rechnung tragen? Wie lassen sich wissenschaftliche Fach- und Ergebnis-Kommunikation so gestalten, dass entlang des gesamten Prozesses auch gesellschaftliche Akteur*innen beteiligt werden können?

In „Kontaktszenen“ geht es um Begegnungen von Wissensformen und -akteur*innen. Wir entwickeln hier das Konzept der „Erstkontakte“ (First Contact) weiter, dass eine zentrale Rolle in Kolonial- und Eroberungsnarrativen in historischen Texten aber auch in der Science-Fiction spielt. Mit all seinen potenziellen Problemen – hierarchische Unterschiede, Vorurteile und Verständigungsschwierigkeiten – ist der Kontakt ein neuralgischer Punkt der Kommunikation. Wir beobachten „Kontaktszenen“ indem wir solche Kontakte in Workshops provozieren und untersuchen.

Maren Lickhardt hat in ihrem Artikel für unser Sonderheft „Kontaktszenen„Die Rolle von Unterhaltungsmagazinen in der Pandemie“ untersucht. Da es kein „Skript“ für die Verarbeitung und Präsentation dynamischen Wissens in einer solchen Akutsituation gab, lässt sich in Zeitschriften wie Bild der Frau und Das Goldene Blatt besonders gut untersuchen, wie sich Wissenschaftskommunikation unter den Bedingungen der Störung entwickelt. Die Beiträge drehen sich um Speziesvermischung in der Science Fiction und Marsbesiedlungspläne sowie Kontaktszenen mit der Natur in Hütten als Topos und Lebensmodell. 

Ein weiteres Teilprojekt untersucht interorganisationale Netzwerke der Wissenschaft, wie die Publikationsnetzwerke, in denen wissenschaftliche Akteur*innen zusammenarbeiten, um gemeinsam Wissen zu generieren und zu publizieren. Die Netzwerkbetrachtung erlaubt den Transfer der Ergebnisse auf wirtschaftswissenschaftliche Kontexte (zum Beispiel Kooperationsbeziehungen zwischen Unternehmen) und trägt zum Erkenntnisgewinn hinsichtlich beteiligter Akteur*innen am Störungspotential bei. Die Identifikation dieser Störungspotentiale ist dabei auch richtungsweisend für die Weiterentwicklung wissenschaftlicher Kommunikationskanäle, welche über rein schriftliche Publikationsformate hinausgehen können. Ziel ist es, evidenzbasierte Handlungsempfehlungen bezüglich der gegenwärtigen Bedingungen und angemessenen Reorganisation der wissenschaftlichen Publikationslandschaft zu entwickeln. 

Ein Eindruck aus einem Boundary Object Prototyping Workshop. Foto: Lenard Opeskin

Das Teilprojekt „Boundary Objects“ untersucht aus einer Design-Perspektive, wie Objekte, die Menschen aus ganz unterschiedlichen Tätigkeitsfeldern und Lebensbereichen verbinden, partizipative Entwicklungsprozesse befördern. Im Rahmen von Projekten wie zum Beispiel zur Klimaneutralen Mobilität entstehen immer wieder konkrete Objekte (Karten, Grafiken, aber auch Prototypen), die nicht unbedingt das Ziel oder Ergebnis eines Projekts sind, sondern dazu dienen, Kommunikation verschiedener Stakeholder*innen zu ermöglichen. Anhand solcher Objekte wird beobachtbar, welche Kommunikationsformen gemeinsame Arbeit zwischen Design, Technik und Gesellschaft möglich machen. 

Disruptive Formate

Aus der Zusammenarbeit dieser Teilprojekte entstehen gemeinsame Formate. In „Boundary Object Prototyping Workshops“ wird in gemeinsamen Sessions daran gearbeitet, die theoretischen und methodischen Annahmen über Grenzobjekte beispielsweise am Thema urbaner Mobilität zu erproben. Beim Prototyping geht es darum, vor Ort spontan und kollaborativ gemeinsame Versuchsmodelle zu entwickeln – im ersten Workshop waren das Mobilitätskarten für Dresdner Stadtteile. Es geht darum, gerade in ersten Phasen Kreativität und Spekulation zu ermöglichen, um daraus abzuleiten, welche Aspekte eines Themas für die Beteiligten wirklich wichtig sind, anstatt von vornherein von Machbarkeit auszugehen. Dabei bildet das COSMO Wissenschafts-Forum in der Dresdner Innenstadt einen zentralen Anlaufpunkt, der auch den Schauplatz für unseren „Speculative Future Workshop“ mit Chris Spatschek (KIT)* im Dezember 2023 bilden wird. 

Am 07. September 2023 wird in Zusammenarbeit mit der SLUB (Sächsische Landes- und Universitätsbibliothek) der Auftakt zu unserem Format „Future Editor Forum“ stattfinden. Das Future Editor Forum greift die Gedanken zu sich verändernden Landschaften der Wissenschaftskommunikation, aber auch der Notwendigkeit der Veränderung auf. Primärer Publikationsweg bleibt bislang das schriftliche Printformat, wohingegen Möglichkeiten digitaler Technologien und interaktiver Formate kaum genutzt werden.  Das Future Editor Forum richtet sich an potentielle zukünftige Herausgeber*innen wissenschaftlicher Kommunikationsformate und adressiert Fragen, wie: Was benötigen zukünftige Herausgeber*innen wissenschaftlicher Kommunikationsformate für zukunftsfähige Wissenschaftskommunikation? Wie kann interne und externe Wissenschaftskommunikation besser verzahnt werden? Welche Folgen haben Digitalisierung und sich damit eröffnende Kommunikations- und Interaktionsmöglichkeiten für Wissenschaftskommunikation?

„In sogenannten Narrative Research Workshops versuchen wir, traditionelle Forschungspraktiken zu stören, um die Bandbreite der Wissensproduktion praktisch auszuloten.“ Disrupt!Research
In sogenannten „Narrative Research Workshops“ versuchen wir, traditionelle Forschungspraktiken zu stören, um die Bandbreite der Wissensproduktion praktisch auszuloten. „Narrative Research“ verstehen wir dabei als möglichst offenes Format, das künstlerische Praktiken einbezieht und Fiktion als Wissen generierende Praxis begreift. In Zusammenarbeit mit den Nordischen Botschaften in Berlin haben wir im Rahmen der Ausstellung Luondo Luonddus – As Part of Nature, We Are Nature einen Tag mit Workshops der Sámi Wissenschaftlerin und Aktivistin Liisa-Rávná Finbog, des schwedischen Künstler*innen-Duos SIMKA, der Dichterin Sabine Scho, der Schriftstellerin Charlotte Weitze veranstaltet, die sich vor allem auf ökologische Beziehungen und Machtverhältnisse konzentrierten. Im Rahmen der Langen Nacht der Wissenschaften (LNDW) am 30. Juni 2023 werden im Programm der Senckenberg Sammlungen in Dresden Klotzsche mit Verena Hillgärtners „Expedition mit Stift und Papier“ Praktiken biologischer Wissensproduktion konfrontieren, die zwischen Citizen Science und Fachwissenschaft angesiedelt sind. 

Als exploratives Projekt verstehen wir Disruption nicht nur als unser Thema, sondern auch als eine Aufgabe in der Entwicklung und Erprobung der Formate. Das bedeutet konkret, dass wir unsere unterschiedlichen Evaluierungstools und -maßstäbe zum Anlass nehmen, nicht im Vorhinein konkrete Ziele und Zahlen festzulegen. Für uns ist es wichtig, durch die Formate mit verschiedenen Akteur*innen ins Gespräch zu kommen und so die Dynamik unseres Titels auch als Arbeitsweise unseres Teams in den Mittelpunkt zu stellen.

Projektsteckbrief

Träger: „Disrupt!Research“ ist Teil der Exzellenz-Maßnahme „Disruption and Societal Change“ an der TU Dresden (TUDiSC) und wird gefördert vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) und dem Freistaat Sachsen im Rahmen der Exzellenzstrategie von Bund und Ländern.

Mitglieder: Dr. Solvejg Nitzke (PI, Literatur-/Kulturwissenschaft); Dr. Martina Pieperhoff (PI, Wirtschaftswissenschaften/Soziologie); Prof. Dr. Jens Krzywinski (PI, Industriedesign); Alina Praun (Erwachsenenbildung und komparative Bildungsforschung); Kirsten Jüdt (Literaturwissenschaft), Svenja Engelmann-Kewitz (Literaturwissenschaft), Lenard Opeskin (Industriedesign)

Laufzeit: Oktober 2021 bis September 2024

Budget: 672.000€

Ziele: Entwicklung und Erprobung von dynamischen Formaten, die interdisziplinäre Wissenschaftskommunikation (universitätsintern und –extern) so organisieren, dass sie Störungen nicht nur aushalten, sondern produktiv machen. 

Die redaktionelle Verantwortung für diesen Beitrag lag bei Anna Henschel. Gastbeiträge spiegeln nicht zwangsläufig die Meinung unserer Redaktion wider.

* Das KIT ist einer der Träger des Portals Wissenschaftskommunikation.de.