Das Online-Magazin MedWatch klärt über gefährliche Heilsversprechen im Internet auf. Über die fatalen Konsequenzen schlechter Gesundheitsinformationen, bedeutsame Recherchen des Teams und die Neuerungen seit Relaunch der Website spricht die Medizinjournalistin und Co-Gründerin Nicola Kuhrt im Interview.
„Eine schlechte Gesundheitsinformation kann Menschen schädigen“
Auf der Seite von MedWatch heißt es, das Projekt sei “Recherchen aus der Grauzone des Netzes” verschrieben. Was macht die Plattform aus?
Damals wie heute ist das Ziel von MedWatch, Fake News zu Gesundheitsthemen aus dem Netz aufzudecken. Das können falsche Heilsversprechen mit Bezug auf Mittel sein, die nicht wirken. Schlimmer ist es – und das sind die Fälle, auf die wir uns konzentrieren – wenn Mittel beworben werden, die Menschen davon abhalten, eine schon erprobte Therapie durchzuführen. Das gibt es häufig im Bereich von Krebs- oder anderen Erkrankungen, die chronisch und oder auch lebensbedrohlich sind. Da passiert ziemlich viel Schindluder.
Was sind Beispiele für betrügerische Heilsversprechen, die im Netz kursieren?
Ein Mittel, das uns in Sachen betrügerische Heilsversprechen schon lange beschäftigt, ist CDL, also Chlordioxid. Es wird auch „Mineral Miracle Supplement“ oder kurz MMS genannt. Es wurde zunächst von Jim Humble aus den USA vertrieben, einem selbsternannten Goldgräber, der mit diesem Mittel angebliche Wunder vollbracht hat. Es handelt sich um Chlorbleiche, die man aus zwei Komponenten zusammenschüttet. Es hilft angeblich gegen alles: Krebs, Malaria, Autismus, Demenz. Wenn irgendetwas gegen alles wirkt, kann man davon ausgehen, dass es nicht seriös ist – genauso, wenn Mittel vermeintlich keine Nebenwirkungen haben.
Es gibt Vertreter*innen, die MMS beispielsweise in Facebook-Gruppen anpreisen, in denen sich Eltern autistischer Kinder austauschen. Sie raten ihnen, damit drei- bis fünfmal am Tag einen Darmeinlauf zu machen. Wie gesagt, das ist Chlorbleiche. Man schüttet es besser in den Pool, aber gibt es nicht kleinen Kinder. Das ist Kindesmisshandlung.
Was waren ihrer Ansicht nach die bedeutsamsten Recherchen von MedWatch?
Warum ist es wichtig, gefährliche Heilsversprechen zu entkräften?
Eine schlechte Gesundheitsinformation kann Menschen schädigen. Im Rahmen einer Studie für die Bertelsmann Stiftung haben wir gemeinsam mit vielen Expert*innen aus dem Gesundheitsbereich auch eine Definition dafür entwickelt. Im einfachsten Fall gibt jemand Geld für etwas aus, das nicht funktioniert. Aber oft ist nicht nur das Geld weg, sondern auch das Vertrauen in das Gesundheitssystem. Im schlimmsten Fall ziehen Menschen Schlangengift einer erprobten, evidenzbasierten Therapie, beispielsweise einer Chemotherapie, vor. Man kann das verstehen. Die Menschen greifen nach einem Strohhalm, weil sie schwer krank sind. Diese Situation für Profit auszunutzen, finden wir schrecklich. Das ist für uns auch eine Art Verbraucherschutz.
Welche Konsequenzen können Ihre Recherchen zu Fehlverhalten nach sich ziehen?
Sie können viele kleine Veränderungen anstoßen. Wir haben beispielsweise über das Hormonpräparat Duogynon berichtet, das in den 1960er- und 70er-Jahren in Schwangerschaftstests vorkam. Die Schädigungswirkung ist ähnlich der von Contergan und führte zu Fehlbildungen bei Kindern. Die betroffenen Menschen sind mittlerweile erwachsen und leben mit Behinderungen. Sie versuchen seit Jahrzehnten von der Bundesregierung die Anerkennung zu bekommen, dass das Gesundheitsamt damals nicht richtig gearbeitet hat. Dazu gibt es schränkeweise Dokumente, die dies auch belegen. Wir haben über einen Politiker berichtet, der damals die Aufarbeitung blockiert hat. Dadurch kam die Prüfung endlich ins Rollen, es wird Gutachten geben. Im besten Fall bekommen die Betroffenen und ihre Angehörigen Anerkennung.
Ich habe MedWatch mit Hinnerk Feldwisch-Drentrup gegründet, der auch Medizinjournalist ist. Wir kannten uns durch Recherchen und haben festgestellt, dass wir beide Geschichten zu großen Skandalen gemacht haben, über die viel berichtet wurde. Alle waren entsetzt, aber danach fehlte immer ein Follow-up. Wir dachten uns, dann müssen wir das eben selber machen und weiter berichten. Wir schauen, wer hinter den schlechten Gesundheitsinformationen steckt. Oftmals gibt es kein Impressum, oder man kommt bei den Recherchen im Indischen Ozean raus.
Haben andere Medien diese Themen nicht ausreichend auf dem Schirm?
Solche Recherchen nachzuverfolgen wird oft sehr kleinteilig. Die Fälle sind auch häufig mit Gerichtsverfahren verbunden, daraus werden dann langjährige Recherchen. Die meisten großen Redaktionen machen es deshalb nicht. Man muss bei den Gesundheitsämtern nachfragen, beim Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte, um zu sehen, inwiefern die Missstände aufgearbeitet werden. Es gibt auch immer einen gesundheitspolitischen Aspekt: Wo fehlt etwas im System, wo funktionieren die Strukturen nicht richtig?
Wer liest MedWatch?
Wir sind mit einer kleinen Leser*innenschaft aus dem gesundheitspolitischen Bereich gestartet. Das waren vor allem Mediziner*innen, Krankenpfleger*innen, Menschen aus der Gesundheitspolitik oder Skeptiker*innen. Wir sind gemeinnützig und unser Ziel war immer, Verbraucher*innen aufzuklären und Menschen davor zu bewahren, irgendwelche gefährlichen Pillen einzunehmen. Wir sind mittlerweile nicht mehr Nische und werden verstärkt auch in der breiteren Öffentlichkeit gelesen. Auf Twitter haben wir zum Beispiel über 11.000 Follower*innen und unsere Beiträge werden gut geteilt. Aber wir sind noch weit davon entfernt, eine große Reichweite zu haben.
Seit kurzem erscheint MedWatch im neuen Gewand. Was ist durch den Relaunch neu oder anders?
Welches Team steckt hinter MedWatch und welche Expertise fließt durch die Mitglieder ein?
Wir sind ein kleines Team von 15 freien Autor*innen. Ich selbst bin Medizinjournalistin, daneben sind Biolog*innen, Mediziner*innen, Psycholog*innen und eine Tierärztin dabei. Wir tauschen uns alle zwei Wochen in einer großen Redaktionskonferenz zu unseren aktuellen Recherchen aus. Da kommen viele Fragen. Die Synergieeffekte sind toll und haben einige Recherchen sehr bereichert.
Wie kommen Sie zu Ihren Themen?
Man ist ohnehin täglich im Netz unterwegs und bringt durch frühere Recherchen und die Arbeit als Journalistin immer seine eigenen Themen mit. Man interessiert sich dafür, wie sich die Themen weiterentwickeln. Wir pflegen außerdem einen sehr intensiven Kontakt mit der Community. Sie können uns Themen schicken oder Fragen einsenden.
Wie ist das Online-Magazin finanziert?
MedWatch ist durch die Community getragen. Bei Steady können Leser*innen ein Paket abschließen, um uns zu unterstützen. Die Artikel sind aber für alle lesbar, deshalb haben die Unterstützer*innen keinen großen Mehrwert – außer ein gutes Gefühl, dass sie unser Projekt unterstützen. Aktuell unterstützen uns 215 Menschen. Wir haben mit MedWatch auch Preise gewonnen, beispielsweise wurden wir vom Vocer Think Tank mit dem Netzwende-Award ausgezeichnet. Mit dem Preisgeld können wir gewisse Projekte finanzieren. Zum Start bekamen wir ein Gründerstipendium vom Netzwerk Recherche.
Haben gefährliche Heilsversprechen in den vergangenen Jahren – beispielsweise durch die Coronapandemie – zugenommen?
Woran liegt es Ihrer Ansicht nach, dass Menschen evidenzbasierte Medizin teils vehement ablehnen?
Diese Vehemenz in den Reaktionen ist wahrscheinlich darin begründet, dass es mit Corona zum ersten Mal eine umfassende Erkrankung gibt, die jeden Menschen in der Gesellschaft erreicht hat. Gerade zu Anfang der Pandemie, mit den Lockdowns und der Diskussion ums Maskentragen, war jede*r gezwungen, sich dazu zu verhalten. Die Situation war verwirrend genug für alle und viele Menschen konnten schwer damit umgehen. Gerade wenn man noch nicht weiß, wie sich das Virus verhält oder ob es einen Impfstoff geben wird, wünschen sich viele Menschen einfache Erklärungen. Dagegen stand die Wissenschaft, deren Erkenntnisstand sich auch ändern kann. Das hat aber nichts mit Lügen zu tun, sondern damit, dass sie immer das beste Wissen sucht. Das war für viele schwer zu verstehen oder zu akzeptieren. Dabei sind auch viele Dinge in der Kommunikation seitens der Politik schiefgelaufen. Das hat zu der Gemengelage geführt, die wir jetzt haben.
Disclaimer: Nicola Kuhrt ist Mitglied des Beirats von Wissenschaftskommunikation.de.