Wie hat sich Wissenschaftskommunikation in der Coronapandemie entwickelt? In einem Projekt des Instituts für Hochschulforschung an der Universität Halle-Wittenberg wird gezielt Kommunikation untersucht, die unter dem Radar der öffentlichen Wahrnehmung läuft. Andreas Beer und Justus Henke geben Einblicke in ihre Forschung.
„Die Pandemie ist nicht unbedingt ein Verstärker für Partizipation“
Herr Beer, Herr Henke: Sie untersuchen Wissenschaftskommunikation „unter dem Radar“. Was sind Ihre Fragestellungen?
Andreas Beer: Am Institut für Hochschulforschung haben wir seit 2018 ein internes Projekt zur Wissenschaftskommunikation und schauen dabei auch: Wo gibt es noch unerforschte Lücken? Für die Ausschreibung der VolkswagenStiftung zum Thema „Corona Crisis and Beyond – Perspectives for Science, Scholarship and Society“ haben wir dann diese Projektidee mit dem griffigen Titel „Under the radar“ entwickelt. Dabei haben wir zwei größere Schwerpunkte. Als erstes haben wir einen länger bestehenden Trend zu einer stärker multidirektionalen und stärker partizipativen Wissenschaftskommunikation wahrgenommen. Das bedeutet, dass immer mehr Akteure aktiv oder passiv in die Kommunikation von Wissenschaft eintreten und dabei auch Teilhabechancen erweitert werden. Wir wollten wissen: Welchen Einfluss hat die Pandemie auf diese Entwicklungen?
Justus Henke: Wir haben dazu zwei recht einfach gestrickte Hypothesen formuliert. Die eine lautet: Partizipative Wissenschaftskommunikation wird durch die Coronapandemie gestärkt. Es gibt eine größere Nachfrage nach wissenschaftlichen Informationen und die Form der Vermittlung soll Vertrauen in politische Entscheidungen fördern. Das bedeutet: Man kann nicht nur unidirektional in eine Richtung senden, sondern muss schauen, dass man vertrauensfördernde Maßnahmen ergreift – zum Beispiel durch Partizipation. Die gegenläufige These lautet: Die Partizipation in der Wissenschaftskommunikation wird zurückgedrängt – möglicherweise, weil Informationen so dringend vermittelt werden müssen, dass keine Zeit für partizipative Designs bleibt.
Beer: Im zweiten Schritt haben wir uns gefragt: Welchen Einfluss haben Untersuchungseinheiten, die sich „unter dem Radar“ befinden? Unter dem Radar bedeutet für uns jenseits der Massen-Öffentlichkeit – die vor allem in überregionalen Medien stattfindet – und jenseits der großen Wissenschaftskommunikations-Tanker, die öffentlich sehr stark wahrgenommen werden. Im Fall der Pandemie ist etwa der Podcast von Christian Drosten und Sandra Ciesek besonders gut sichtbar geworden. Sie waren also „auf dem Radar“ oder in der „ersten Reihe“, bildlich gesprochen. Der Hintergrund ist, dass wir dachten: Vielleicht hat die Pandemie für diese „zweite Reihe“ der Wissenschaftskommunikation Chancen eröffnet. Aber möglicherweise hatte sie auch durch Ressourcen- oder Zeitknappheit mit der Pandemie so zu kämpfen, dass ihre Arbeit stärker begrenzt werden musste als diejenige der ersten Reihe?
Welche Wissenschaftskommunikationsmaßnahmen laufen „unter dem Radar“?
Beer: Wir haben uns beispielsweise Wissenschaftskommunikation im lokalen und regionalen Journalismus angeguckt. Dabei geht es nicht um den überregionalen Mantel, wo es vielleicht eine Wissenschaftsseite gibt, sondern die regionalen Seiten. Hat sich dort in der Pandemie etwas verändert? Was die Wissenschaftskommunikationsforschung auch noch nicht so auf dem Schirm hat, ist die Kommunikation von regionalen und lokalen Behörden, die ja eigentlich keine Wissenschaftskommunikation ist. Aber vielleicht gibt es auch dort einen verstärkten Einzug von wissenschaftlichem Wissen?
Daneben haben wir uns die Kommentare auf Preprint-Servern angeguckt. Preprints sind zwar innerwissenschaftliche Kommunikation, aber wir haben vermutet, dass sich das in der Pandemie eventuell vermischt hat. Vielleicht finden Nichtwissenschaftler*innen Hinweise in den Medien und surfen dann auf Preprint-Server, um an der Kommunikation – gegebenenfalls sogar an der Begutachtung – teilzunehmen.
Außerdem haben wir uns lokale und regionale Archive angeguckt, die in der Pandemie Aufrufe gestartet haben und direkt mit der Bevölkerung in Kontakt getreten sind. Auch hier haben wir geschaut: Hat sich die Kommunikation seit Beginn der Pandemie verändert?
Henke: Wir machen also gezielte Tiefenbohrungen in bestimmten Bereichen, die noch untererforscht sind. Dabei haben wir keine abschließende Liste dessen, was unter dem Radar läuft. Wir werden womöglich gegen Ende des Projekts eine Art Heuristik vorschlagen, wie man Wissenschaftskommunikation in ihrer Reichweite einordnen kann, um weitersuchen zu können, was noch unter dem Radar liegen könnte.
Welche Art von Daten haben Sie gesammelt?
Bei der behördlichen Kommunikation haben wir einen Quellenmix gewählt. Wir haben uns einerseits Amtsblätter aus ausgewählten Städten angeschaut. Wie wird dort wissenschaftliches Wissen in behördliche Kommunikation eingebracht? Dann haben wir uns die Lokalpresse angeschaut, um zu untersuchen, wie die lokalen Behörden in die Presse hinein agiert haben. Der dritte Ansatz ist, in den Pressestellen der Städte konkret nachzufragen: Was ist noch passiert? Gab es Anzeigen, was stand auf der Webseite?
Henke: Unter dem Radar heißt auch: nicht leicht zu finden. Für einen empirischen Feldzugang ist das erst mal eine Herausforderung. Neben dem klassischen Repertoire an Methoden, das man aus der Sozialforschung kennt, haben wir uns auch in den Bereich der Computational Social Science vorgewagt. Wir versuchen, mit Instrumenten wie Web Scraping, also dem automatischen Durchsuchen von Webseiten, massenhaft an Daten heranzukommen und diese zu analysieren. Das haben wir zum Beispiel im Lokaljournalismus gemacht und Tausende Artikel mit Coronabezug aus einer Lokalzeitung herausgesucht. Über Stichworte haben wir dann diejenigen herausgefiltert, die Bezug zu Wissenschaftskommunikation haben. Wir versuchen nun herauszufinden, in welcher Form dies passiert.
Beer: Eine andere Untersuchungseinheit, bei denen Massendaten wichtig waren, waren die Preprint-Server. Auch da sind wir gerade mittendrin. Wir merken, dass sich offensichtlich noch niemand für dieses kommunikative Drumherum bei Preprints interessiert hat. Mithilfe von Scraping-Programmen suchen wir solche heraus, die von der Presse aufgegriffen wurden und bei denen es Kommentierungen gab, die wir dann qualitativ untersuchen.
Welche Ergebnisse zeigen sich bei der Auswertung der Daten?
Über 90 Prozent der Archive, die wir untersucht haben, haben die Bevölkerung in der Coronapandemie zum ersten Mal so direkt einbezogen. Die Pandemie war der Punkt, an dem sie sagen konnten: Jetzt machen wir das. Weil der Tagesbetrieb flachfiel, hatten sie Kapazitäten. Die Archive haben die Chance genutzt.
Henke: Stadtarchive sind kleine Akteur*innen im Feld der intermediären oder dritten Orte der Wissenschaftskommunikation. Intermediäre Orte befinden sich außerhalb von Hochschulen bzw. Forschungseinrichtungen und außerhalb des Wissenschaftsjournalismus. Museen sind hier zuerst zu nennen. Allgemein geht es um Begegnungspunkte für Wissenschaft und Gesellschaft. Das Thema ist noch nicht im Fokus der wissenschaftlichen oder politischen Akteur*innen angekommen. Aber man hat es zum Beispiel jüngst in dem Handlungsperspektivenpapier der Factory Wisskomm aufgegriffen, an dem ich mitwirken durfte. Diese Orte wurden als besonders spannendes und zukunftsreiches Feld genannt, in dem Partizipation gestärkt werden kann.
Was zeigen Ihre bisherigen Ergebnisse in Hinblick auf die Partizipation?
Henke: Vor allem, wenn man unter dem Radar operiert, muss man auf ein etwas breiteres Konzept, nämlich die Multidirektionalität, zurückgreifen. Wir sehen, dass sich die Sender-Empfänger-Konstellationen ändern. Nicht immer ist die Wissenschaft allein der Sender und die interessierte Teilöffentlichkeit der Empfänger. Es gibt inzwischen mehr Sender und auch mehr Kanäle für die Wissenschaftskommunikation. Außerdem wird versucht, mehr Zielgruppen anzusprechen. Unter diesem erweiterten konzeptionellen Begriff der Multidirektionalität analysieren wir unser Material.
Was sind Beispiele für diese Beobachtungen?
Eine andere Tendenz, die wir erkennen können, ist, dass es immer von den lokalen Bedingungen abhängt, ob die Pandemie eine Chance geboten oder die Verantwortlichen überfordert hat. Überforderung ist etwa dann eingetreten, wenn es äußeren Druck zu mehr kommunikativem Engagement gab, passende Reaktionen darauf – aus unterschiedlichen Gründen – aber nicht gelangen. Dadurch, dass Wissenschaftskommunikation offensichtlich noch nicht so stark institutionell verfestigt ist, hängt das letztlich immer noch von einzelnen Akteur*innen ab.