Foto: Simon Lee

Ein Stimmungsbarometer zum digitalen Wandel

Wie stehen Bürger*innen zur Digitalisierung im ländlichen Raum? Die Soziologen Jan Gruß und Andreas Scheibmaier sind dieser Frage nachgegangen. Ein Gespräch über Dialogformate, den Wunsch nach Beteiligung und ein Schauspiel als Format der Wissenschaftskommunikation.

Herr Gruß, Herr Scheibmaier, Sie haben im Rahmen des Forschungsprojekts „Digitaldialog 21“ ein Stimmungsbild zum digitalen Wandel im ländlichen Raum erstellt. Wie fällt dieses aus?

Jan Gruß ist studierter Soziologe und Gesundheitswissenschaftler. Er arbeitet als akademischer Mitarbeiter im Projekt „Digitaldialog 21“ an der Hochschule Furtwangen. Zu seinen Forschungsinteressen zählen gesellschaftliche Transformationsprozesse und soziale Ungleichheiten sowie partizipative Methoden und öffentliche Wissenschaft. Foto: privat

Jan Gruß: Wir haben die Einstellung zum digitalen Wandel im ländlichen Raum sowohl in Umfragen mit über zweitausend Teilnehmenden als auch in Bürger*innendialogen untersucht. Letztere fanden teils in Präsenz, teils coronabedingt online statt. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Bürger*innen unterschiedliche Haltungen zu Digitalisierung haben. Einige Leute sind digitalen Technologien und Anwendungen gegenüber positiv eingestellt und sehen darin große Potenziale. Andere benennen auch die Herausforderungen. Sie befürchten, dass sich soziale Ungleichheiten durch die Digitalisierung verstärken können und nicht alle in gleichem Maße am digitalen Wandel beteiligt werden.

Andreas Scheibmaier: Es war spannend zu sehen, wer zu den Bürger*innendialogen kam. Viele haben erwartet, dass wir ihnen die Digitalisierung erklären. Sie gingen davon aus, dass wir ihnen erzählen, was geschehen muss, damit ihre Gemeinde digitalisiert wird. Es hat etwas gedauert, bis die Bürger*innen verstanden haben, dass wir an ihren Meinungen, Lernerfahrungen und Herausforderungen mit der Digitalisierung im täglichen Leben interessiert sind.

Worin sehen die Bürger*innen Herausforderungen sowie Chancen und Potenziale bei der Digitalisierung?

Andreas Scheibmaier ist akademischer Mitarbeiter im Projekt „Digitaldialog 21“ an der Hochschule Furtwangen. Der Soziologe forscht zu Trans- und Posthumanismus sowie öffentlicher Wissenschaft. Foto: privat

Scheibmaier: Es kamen viele lebensweltliche Fragen auf, beispielsweise ob man in Zukunft in der Verwaltung oder beim Fahrkartenverkauf im Nahverkehr noch immer alles analog bewältigen kann. Oder wird alles digital sein und man benötigt unbedingt ein Smartphone? Kann ich bald nur noch an einer Online-Sprechstunde meines Arztes teilnehmen oder die Steuererklärung online einreichen? Es gab die Sorge, dass Personen, die noch nicht digital kompetent sind oder denen die Geräte fehlen, abgehängt werden.

Warum haben Sie in Ihrem Projekt den Fokus auf den ländlichen Raum gelegt?
Gruß: In der Öffentlichkeit beschränken sich die Diskussionen zur Digitalisierung im ländlichen Raum größtenteils auf Infrastruktur und Breitbandversorgung. Das ist verständlicherweise ein großes Thema, das auch von den Bürger*innen im Rahmen unseres Projektes häufig angesprochen und diskutiert wurde. Darüber hinaus stellt die Digitalisierung noch weitere Herausforderungen dar, bietet aber auch gerade für den ländlichen Raum viel Potenzial. Mit dem Fokus des Projektes auf den ländlichen Raum wollen wir die Herausforderungen und das Potenzial jenseits der Infrastruktur sichtbar machen.

Inwiefern unterscheiden sich die Einstellungen der Bürger*innen mit Blick auf ihren sozioökonomischen Status, Alter, Geschlecht oder Bildungshintergrund?
Gruß: Der auffallendste Unterschied in den Einstellungen zur Digitalisierung ist, wie viel Zeit die Leute privat oder beruflich mit digitalen Geräten verbringen – unabhängig vom Alter und Bildungshintergrund. Wir haben auch den Corona-Aspekt in die Befragung aufgenommen. Hier gilt auch: Wer vor der Pandemie schon digital aktiv und damit vertraut war, agierte durch sie noch digitaler.

Inwiefern stimmen die Aussagen in den Bürger*innendialogen mit diesen Umfrageergebnissen überein?

„Es hat etwas gedauert, bis die Bürger*innen verstanden haben, dass wir an ihren Meinungen, Lernerfahrungen und Herausforderungen mit der Digitalisierung (...) interessiert sind.“ Andreas Scheibmaier
Scheibmaier: Die geschilderten Erfahrungen hingen stark von der Lebenssituation ab. Wenn jemand beispielsweise Kinder hat, die sich gerade im Homeschooling befanden, oder man selbst im Homeoffice arbeitete, waren die Erfahrungen natürlich andere als bei Menschen mit weniger Berührungspunkten zur Digitalisierung. Viele sehen digitale Angebote als eine gute Option in Coronazeiten an, beispielsweise Veranstaltungen online durchzuführen, sich digital zu treffen oder mit dem Chor online zu singen.

Gruß: Zu den Bürger*innendialogen kamen eher Leute, die eine Verbindung zum Thema hatten. Dazu zählten auch Vertreter*innen von Digitalisierungsinitiativen für Senior*innen. Viele Kurse, die sie normalerweise anbieten würden, um Menschen an die Digitalisierung heranzuführen, sind aufgrund der Maßnahmen zur Pandemiebekämpfung weggefallen. Das hat nochmals die Lücke zwischen Menschen mit Digitalkompetenz und denen ohne Berührungspunkte vergrößert.

Welche Zielgruppen wollten Sie ansprechen?
Gruß: Wir wollten eine breite Beteiligung erreichen. Deshalb gab es den Fragebogen nicht nur online, sondern auch in Papierform. Damit wollten wir auch Menschen ansprechen, die noch nicht so digital unterwegs sind. Das ist uns auch bei den Bürger*innendialogen nur zum Teil gelungen. Wir haben bei Bewerbung und Durchführung der verschiedenen Formte mit 13 Kooperationsgemeinden in Baden-Württemberg zusammengearbeitet.

Scheibmaier: Wir sind sehr offen an die Bürger*innendialoge herangegangen. Die Teilnehmenden konnten leider nicht repräsentativ ausgewählt werden. Die Evaluation im Anschluss hat gezeigt, dass zu solchen Veranstaltungen eher der Typ männlich und älter, etwa in den Fünfzigern, und mit gehobener Bildung kommt.

Wie haben Sie Ihr Forschungsprojekt kommunikativ begleitet?
Gruß: Wir haben viel über Zeitungsartikel, in Vorträgen und einen eigenen Podcast mit Expert*inneninterviews kommuniziert. Daneben haben wir überlegt, wie man die Ergebnisse noch anders aufbereiten und in einen Dialog treten kann. Entstanden ist das „Schauspiel zum digitalen Wandel“: Künstler*innen spielen darin die Bürger*innendialoge überspitzt und humorvoll in Form einer Videokonferenz nach. Das Drehbuch für das Schauspiel wurde zusammen mit einer Dramaturgin erarbeitet und basiert auf dem Ablauf, sowie den Inhalten der durchgeführten Bürger*innendialoge. Teilweise sind auch Zitate aus den Dialogformaten eingeflossen, auch wenn diese kondensiert wurden.

Wir benutzen das Schauspiel nicht nur als Form der Wissenschaftskommunikation, sondern auch als Impuls für neue Dialoge, unter anderem als Diskussionsgrundlage in Workshops, um wiederum neue Zielgruppen anzusprechen. Dazu zählen beispielsweise Jugendliche, die tendenziell nicht zum Bürger*innendialog kommen. Eine Aufgabe im Rahmen des Workshops ist zum Beispiel, dass sie den Dialog aus dem Schauspiel aus ihrer Perspektive weiterführen sollen.

YouTube

Mit dem Laden des Videos akzeptieren Sie die Datenschutzerklärung von YouTube.
Mehr erfahren

Video laden

Wie hoch war denn der Wunsch der Bürger*innen, sich in den digitalen Wandel einzubringen und ihn aktiv mitzugestalten?
Gruß: Das haben wir auch im Fragebogen abgefragt. Demnach ist ein großer Beteiligungswunsch da. Wie das dann in der Realität aussieht, haben die Bürger*innendialoge gezeigt. Ausgehend von den Umfrageergebnissen hätten die Säle oder Online-Foren gar nicht groß genug sein können. Letztendlich haben aber nur wenige an den Dialogformaten teilgenommen. Es kamen etwa fünf bis 35 Teilnehmer*innen pro Termin. Manche Dialoge mussten auch aufgrund zu weniger Anmeldungen abgesagt oder verschoben werden. Da gab es eine große Diskrepanz zwischen dem Wunsch nach Beteiligung und der aktiven Teilnahme an solchen Angeboten.

Wie liefen die Bürger*innendialoge ab?

„Es gab eine große Diskrepanz zwischen dem Wunsch nach Beteiligung und der aktiven Teilnahme an solchen Angeboten.“ Jan Gruß
Gruß: Die Dialogformate liefen in drei Runden ab. In der ersten Runde haben wir World Cafés zu allgemein zur Herausforderungen, Potenzialen und Gestaltungsräumen der Digitalisierung im ländlichen Raum veranstaltet. Zum Teil war das in der Phase des ersten Lockdowns. Da gab es viel Gesprächsbedarf. In der zweiten Runde haben wir die Themen auf Basis der Ergebnisse der ersten Runde etwas enger eingegrenzt und Schwerpunkte gesetzt. Die letzte Runde war ein länderübergreifendes Bürger*innenforum, zu dem wir auch Expert*innen und Politiker*innen eingeladen haben. Auch Praktiker*innen waren da und haben verschiedene Sachen vorgestellt, beispielsweise konnten Teilnehmende eine VR-Brille aufsetzen. Solche Formate können dabei helfen, die Digitalisierung zu erfahren und gleichzeitig besser bewerten zu können. Ziel ist aus der Bürger*innenbeteiligung Handlungsempfehlungen an die politischen Entscheidungsträger*innen abzuleiten.

Welche Schwerpunktthemen wurden in den World Cafés verhandelt?
Scheibmaier: Wir haben drei Schwerpunkte identifiziert: Bildung, Gesundheit und die wirtschaftliche Attraktivität des ländlichen Raums. Gerade das Thema Digitalisierung in der Bildung war im Kontext der Pandemie spannend. An den Bürger*innendialogen haben sowohl Schulleiter*innen, Schüler*innen und Eltern teilgenommen und von ihren unterschiedlichen Erfahrungen berichtet. Man kann sagen, wenn die Schulen und Einrichtungen bereits vor der Pandemie digital gut aufgestellt waren und die nötigen Endgeräte und Strukturen hatten, dann hat der Unterricht während des Lockdowns gut funktioniert.

Ein anderes World Café widmete sich neuen Formaten im Gesundheitssystem wie der digitalen Sprechstunde oder der digitalen Patientenakte. Darin sahen viele aufgrund der fehlenden Versorgung und Abdeckung mit Ärzt*innen im ländlichen Raum einen Vorteil. Auch die Strukturen auf dem Land verändern sich, beispielsweise gibt es weniger lokale Bankfilialen. Daher ist die Digitalisierung auch ein Faktor für die Wirtschaft. Sie bietet die Möglichkeit, sich besser zu vernetzen und neue Angebote zu schaffen. Gleichzeitig hört man immer wieder Bedenken wegen der Abhängigkeit von großen Konzernen.

Gruß: Wir haben beispielsweise Pilotprojekte vorgestellt – digitale Arztpraxen, die Online-Übertragung von Gottesdiensten oder digitale Bildungsangebote — und die Bürger*innen nach ihrer Meinung dazu befragt. Sie sollten auch eigene Ideen einbringen können. Dabei kam beispielsweise die Idee eines Internetcafés auf, in dem man sich gegenseitig bei Fragen der Digitalisierung hilft.

Wie können aus Ihren Forschungsergebnissen Beteiligungsformate für Bürger*innen entstehen, um sie aktiv die Digitalisierung mitgestalten zu lassen?
Gruß: Unser Ziel war erst einmal ein Stimmungsbarometer zu erstellen und daraus Handlungsempfehlungen an die Politik abzuleiten. Was daraus wird, hängt von den beteiligten Gemeinden und ihren Verwaltungen ab. Sie haben teilweise nebenher Ideen und Pilotprojekte entwickelt, um die Digitalisierung in ihren Gemeinden weiter zu gestalten.