Die TINCON, die Konferenz für digitale Jugendkultur, wird maßgeblich von Jugendlichen mitgestaltet. Wann dieser partizipative Gedanke an seine Grenzen stößt und warum sich die Konferenz als außerschulische Ergänzung versteht, erzählen die Projektverantwortlichen Sheherazade Becker und Carla Barzen im Interview.
„Wir geben Jugendlichen eine Bühne und verstärken ihre Stimme“
Die Teenage Internetwork Conference (TINCON) wurde 2015 von Tanja und Johnny Haeusler als gemeinnützige Kulturinstitution für Jugendliche gegründet. Was waren damals ihre Beweggründe?
Sheherazade Becker: Die beiden gehörten 2007 zu den Gründer*innen der re:publica, Europas größter Konferenz für digitale Themen. Als ihre Söhne ins schulpflichtige Alter kamen, stellten sie fest, dass es für junge Menschen auch einen geschützten Ort geben muss, wo sie digitale Themen besprechen und sich über Herausforderungen, aber auch über die vorhandene Kreativität und Kultur austauschen können.
Warum brauchen junge Menschen die TINCON als geschützten Ort zum Austausch?
Carla Barzen: In traditionellen Bildungseinrichtungen kommen digitale Themen leider oft zu kurz.
Sheherazade Becker: Wir wollen diese Lücke schließen und springen daher als außerschulische Ergänzung ein, besonders bei der Vermittlung von Medienkompetenzen. Das machen wir in Form von Workshops auf der Konferenz. Die Generation der „Digital Natives“ ist in die digitale Welt hineingeboren worden und kennt sie nicht anders. Sie geht angstfrei mit digitalen Tools um. Aber natürlich braucht sie eine Anleitung und Wissen, das vermittelt werden muss. Ich vergleiche das immer mit einer Fremdsprache. Man würde ja auch nicht sagen: Diese jungen Menschen hören alle englischsprachige Musik und gucken Serien auf Englisch, dann brauchen sie keinen Englischunterricht mehr.
Carla Barzen: Zudem haben junge Menschen die TINCON einfach verdient.
Wieso glauben Sie, dass junge Menschen die TINCON „verdient“ haben?
Sheherazade Becker: Wir sehen von politischer Seite ganz klar, dass da eine Generation nicht so wahrgenommen wird, wie sie sollte. Die SINUS-Jugendstudie hat 2020 ermittelt, dass sich Jugendliche von der Politik nicht ernst genommen fühlen. Das Bundesverfassungsgericht hat 2021 festgestellt, dass die Klimaziele mit den aktuellen Maßnahmen nicht zu erreichen sind und dies ein Missachten der nächsten Generation sei. Wir geben Jugendlichen eine Bühne und verstärken ihre Stimme, denn das sind die Menschen, die entweder noch nicht wählen können, weil sie unter 18 sind, oder deren Themen in der Politik kaum Beachtung finden. Aber das ist die Generation, die diese Gesellschaft übernehmen soll. Deshalb ist es wichtig, ihr Gehör zu schenken und das nicht nur auf politischer Ebene, sondern auch, wenn es um gesellschaftliche und wissenschaftliche Themen geht.
Die TINCON lebt vom Prinzip der Partizipation. Alle Veranstaltungen werden zusammen mit den Jugendlichen gestaltet. Wie können junge Menschen mitmachen?
Carla Barzen: Wir kündigen regelmäßig auf allen Social-Media-Kanälen unsere Mitmach-Formate an, wie den TINCALL, eine Ausschreibung für unsere Programminhalte. Jugendliche können dort Themen für unsere Konferenzen einreichen, die sie schon immer auf einer Bühne vortragen oder diskutieren wollten. Bis zum 4. März können sie sich noch über ein Formular als Sprecher*in für die TINCON 2022 bewerben. Diese Einreichungen bewerten wir zusammen mit den jungen Menschen aus dem U21-Team. Darüber hinaus haben wir auch einen Beirat von Jugendlichen, der im Prinzip unser beratendes Gremium im Hintergrund ist.
Die Tincon
Die Teenage Internetwork Conference (TINCON) ist eine Konferenz für digitale Jugendkultur. Sie findet mehrmals im Jahr an verschiedenen Standorten in Deutschland statt und soll jungen Menschen einen Austausch über vielfältige Themen, wie Popkultur, Netzpolitik und Wissenschaft ermöglichen. Das Besondere ist der partizipative Ansatz: Junge Menschen zwischen 13 und 25 Jahren gestalten die Konferenz maßgeblich mit. Unterstützt werden sie dabei von einem erfahrenen, hauptamtlichen Team. Die TINCON wurde 2019 für ihr Engagement mit dem Grimme Online Award SPEZIAL ausgezeichnet.
Wann stößt der partizipative Gedanke bei der Umsetzung an seine Grenzen?
Carla Barzen: Eine Grenze, die ich ganz klar nennen würde, sind die steigenden Anforderungen im Bildungswesen, besonders während der Pandemie. Den Schüler*innen wurde viel mehr Eigenverantwortung und Selbstorganisation abverlangt. Bei uns engagieren sie sich ehrenamtlich. Dann kommt das Engagement an seine Grenzen, wenn Jugendliche sagen müssen: „Ich kann das nicht mehr, weil ich so viele Hausaufgaben habe“. Wir sind auf ihre Eigenmotivation angewiesen.
Sheherazade Becker: Der partizipative Ansatz gerät auch an seine Grenzen, wenn es um die Umsetzung und um die strukturierte Planung geht. Aber dafür gibt es uns, das hauptamtliche TINCON-Team. Für die Strukturierung braucht es Erfahrungswerte. Wir können beratend zur Seite stehen und Tipps geben, wie: „Dieses Thema kann uns um die Ohren fliegen, das sollten wir anders formulieren“.
Die TINCON legt neben gesellschaftlichen und politischen Themen auch einen großen Schwerpunkt auf Wissenschaft. Wie entwickelte sich dieser Fokus?
Sheherazade Becker: Die jungen Sprecher*innen lernen, wie Themen recherchiert und wie Quellen richtig angegeben werden. Und ganz wichtig: wie Wissenschaftskommunikation gelingen kann. Ein spannendes Thema zu finden ist das eine. Es so aufzubereiten, dass auch andere es spannend finden, ist nicht so leicht, da können wir sie unterstützen.
Was denken Sie ist entscheidend, um junge Menschen zu erreichen?
Carla Barzen: Wir nehmen die Jugendlichen ernst. Sie merken, dass sie bei uns einen Hebel haben und etwas bewirken können. Bei den Jüngeren im Team merkt man, wie überrascht sie sind, dass sie ernst genommen werden.
Sheherazade Becker: Besonders die Wertschätzung von jugendlichen Sprecher*innen und Gästen ist uns wichtig. Wir machen keinen Unterschied, ob ein*e 16 jährige*r Sprecher*in über Bodyshaming auf Instagram spricht, oder der Gesundheitsminister auf unserer Bühne steht. Die Talks auf der Bühne werden sehr hochwertig aufgezeichnet und anschließend auf Youtube veröffentlicht, da wo sich Jugendliche tatsächlich aufhalten. Wir wollen den Themen dadurch eine Nachhaltigkeit geben, damit sie nicht einfach auf der Bühne verpuffen. So können sie auch über die Kommentare diskutiert werden und im besten Fall werden sie sogar im Schulunterricht angesehen.
Es gibt oft dieses Vorurteil, dass Jugendliche sich nicht für Wissenschaft oder Politik interessieren. Haben Sie das Gefühl, die TINCON konnte an diesem Vorurteil rütteln?
Sheherazade Becker: Ich würde sofort sagen: Ja. Wir haben an den Programmumfragen der letzten zwei Jahre gesehen, dass beispielsweise Wissenschaft ein ganz großes Thema war. Diese Generation ist keine in sich geschlossene Gruppe. Aber gerade, weil die Klimakrise ein Thema ist, was diese Gruppe betrifft und umtreibt, geht es um wissenschaftliche Erkenntnisse. Corona zwingt es uns allen auf, sich mit Wissenschaftskommunikation zu beschäftigen und das betrifft natürlich auch junge Menschen. Darüber hinaus erleben wir viele junge Menschen, die sich sehr intensiv mit Politik auseinandersetzen.
Carla Barzen: Schön ist auch zu sehen, dass das Internet nun als Forschungsobjekt wahrgenommen wird. Themen, die Jugendliche umtreiben, finden sich nun in der Wissenschaft wieder. Diese Themen bringen wir auf unsere Bühne. Auf der TINCON 2021 hat beispielsweise der Doktorand Hannes-Vincent Krause über die psychologischen Auswirkungen von Instagram berichtet. Das sind die Talks, bei denen Jugendliche merken: „Ach krass, das interessiert mich ja!“