Wie kann es gelingen, Bürger*innen zu gewinnen, sich an einem Forschungsprozess zu beteiligen? Barbara Heinisch von der Universität Wien spricht im Interview über Erfahrungen aus dem Projekt „In aller Munde und aller Köpfe – Deutsch in Österreich“.
„Es ist gar nicht so einfach, Co-Creation umzusetzen“
Frau Heinisch, bei dem Citizen-Science-Projekt „In aller Munde und aller Köpfe – Deutsch in Österreich“ der Universität Wien haben Sie mit dem Ansatz der Co-Creation gearbeitet. Was bedeutet das?
Es gibt unterschiedliche Ansätze. In unserem Projekt folgen wir dem von Bonney et al.1, in dem es um Co-Created Citizen-Science-Projekte geht. Ziel ist, dass Forscher*innen und Teilnehmer*innen den gesamten Forschungsprozess gemeinsam gestalten. Das heißt: gemeinsam ein Thema finden, die Forschungsfrage entwickeln, Methoden auswählen, diese anwenden und zu Ergebnissen und Schlussfolgerungen kommen. Auch die Entscheidungen rund um den Forschungsprozess selbst sollten vorzugsweise mit den Teilnehmenden zusammen getroffen werden.
In welchen Fachgebieten gibt es solche Projekte?
Prinzipiell gibt es Co-Creation in fast allen Disziplinen. Meiner Erfahrung nach gibt es partizipative Forschung vor allem in den Sozialwissenschaften schon relativ lange, bisher wurde das nur nicht als Citizen Science benannt. Es geht in solchen Projekten darum, gemeinsam Lösungen für gesellschaftliche Probleme zu finden.
Auch in den Naturwissenschaften gibt es Projekte, die einen Co-Creation-Ansatz verfolgen. Das sind beispielsweise langfristige Monitoring-Projekte, bei denen es darum geht, Flora und Fauna in einer bestimmten Region genau zu beobachten und zu erfassen: Welche Tier- und Pflanzenarten gibt es dort? Wie verändert sich das? Es kann auch darum gehen, Maßnahmen zu treffen, wie diese Tier- und Pflanzenarten geschützt werden können.
Was ist die Idee von „In aller Munde und aller Köpfe – Deutsch in Österreich“ – und warum haben Sie für das Projekt einen Co-Creation-Ansatz gewählt?
Der Grundgedanke war: Sprache ist überall. Menschen brauchen Sprache im beruflichen wie im privaten Alltag. Dementsprechend dachten wir, es sollte ein Grundinteresse geben, an Sprachforschung mitzuwirken. Wir haben den Co-Creation-Ansatz in der sogenannten „Frage des Monats“ umgesetzt. Die ursprüngliche Idee war, dass Bürger*innen Fragen zum Gebrauch und zur Veränderung der deutschen Sprache in Österreich stellen, diese dann gemeinsam mit Forscher*innen methodisch entwickeln, analysieren und die Ergebnisse veröffentlichen. Wir wollten Teilnehmende dazu animieren, den ganzen Forschungsprozess zu durchlaufen.
Was passiert mit den eingereichten Fragen?
Wie sind Sie vorgegangen?
Wir hatten zunächst einen Testlauf mit Studierenden, um herauszufinden: Funktioniert der Ansatz der „Frage des Monats“? Dabei haben wir schon gesehen: Es ist gar nicht so einfach, Co-Creation umzusetzen – selbst mit Studierenden, die schon Erfahrung mit dem Thema „Deutsch in Österreich“ haben, weil sie Germanistik oder Translationswissenschaft studieren. Die Idee war, dass sie den gesamten Forschungsprozess nach bestimmten fixen Vorgaben durchlaufen. Sie sollten eine Forschungsfrage stellen, diese konkreter formulieren, das Thema einschränken, die Methode auswählen und anwenden und schließlich zu Schlussfolgerungen kommen. Diese wurden dann in Form eines Blogbeitrages veröffentlicht. Das heißt, dass die Ergebnisse nicht in der Schublade verschwinden, sondern von der breiteren Öffentlichkeit gelesen werden können.
Bei den Studierenden haben wir aber schon gesehen, dass es nicht leicht ist, sie zu motivieren. Als wir dann versucht haben, eine große Bandbreite an Menschen auch außerhalb der Universität anzusprechen, haben wir gemerkt: Es ist nicht so einfach wie gedacht.
Was waren die Schwierigkeiten?
Es fehlt also das Bewusstsein dafür, dass es auch in der Forschung noch Lücken gibt. Andererseits glauben manche Bürger*innen nicht, dass sie die Kompetenzen haben, um selbst Wissenschaft betreiben zu können. In der Gesellschaft ist noch nicht angekommen, dass man auch im Kleinen mitwirken kann. Man muss kein*e Wissenschaftler*in sein, um wissenschaftliche Forschung zu betreiben. Wissenschaftler*innen und Bürger*innen bringen Kompetenzen mit, die zwar im Prozess auch zu Reibungen führen können, aber sich auch sehr schön mit jenen der Wissenschafter*innen ergänzen, um die Wissenschaft voranzutreiben und Lösungen für gesellschaftliche Herausforderungen zu finden.
Der dritte wichtige Faktor ist einfach Zeit. Die meisten haben gesagt: „Ich habe keine Zeit, mich damit stundenlang auseinanderzusetzen.“
Sie haben sich in einer Studie mit den Schwierigkeiten bei „In aller Munde und aller Köpfe – Deutsch in Österreich“ auseinandergesetzt. Wird allgemein zu wenig darüber gesprochen und geschrieben, was bei Citizen-Science-Projekten schiefgehen kann?
Was würden Sie beim nächsten Mal anders machen?
Wir haben gelernt, dass Co-Creation ein langer Prozess ist und dass es sehr viel gegenseitiges Vertrauen und Kontakte zu interessierten Gruppen braucht. Man sollte zuerst einmal im Kleinen mit geringeren Ambitionen starten. Wir hatten keine Themeneinschränkungen. Alles, was mit Deutsch in Österreich zu tun hatte, konnte eingereicht werden. Wir haben aber gesehen: Es ist wichtig, ein Thema etwas enger zu fassen, um dann mit einer kleinen Gruppe den gesamten Forschungsprozess zu durchlaufen.
Welche anderen Aspekte umfasst das Projekt?
Die „Frage des Monats“ ist unser Steckenpferd, aber wir haben auch andere Mitmach-Aktionen. Es gibt die sogenannte linguistische Schnitzeljagd, bei der es darum geht, dass Teilnehmende mit der Lingscape-App, auf Schilderjagd gehen und Schrift von Plakaten, Postern, Ladenschildern und Gebäuden sammeln und taggen. Sie sollen diese mit Zusatzinformationen versehen: Ist das Schild im Dialekt oder auf Englisch verfasst? Wo ist es zu finden? Dabei geht es vor allem um Datensammlung und Datenanalyse, also nicht um den gesamten Forschungsprozess. Als weitere Mitmach-Aktion haben wir einen Meme-Wettbewerb. Ziel ist, Bilder mit Texten im Dialekt zu verbinden und diese als Memes in sozialen Medien verbreiten. Damit soll unter anderem untersucht werden, was sprachlich gesehen als „typisch Österreichisch“ wahrgenommen wird. Die jüngste Mitmach-Aktion ist unser digitales Wörterbuch „Wortgut“. Hier können die Teilnehmenden lexikalische Ausdrücke im Spektrum von Standard bis Non-Standard, also Hochdeutsch bis Dialekt, aber auch Jugendsprache, Fachsprache und neuerdings auch Emojis erfassen und erklären, was die jeweilige Entsprechung in Standardsprache ist.
Welche Fragen wurden bei der „Frage des Monats“ eingereicht?
Die beliebteste Frage schlechthin ist: Sterben Dialekte aus? Oft wird auch gefragt: Wie viele Dialekte gibt es in Österreich? Wie unterscheidet man Dialekte? Aber auch Sprachkontakt ist ein Thema: Wie beeinflusst das bundesdeutsche Fernsehen die österreichische Aussprache? Auch der Sprachkontakt mit Migrationssprachen ist ein Thema, wenn beispielsweise am Schulhof unterschiedlichste Sprachen innerhalb eines Satzes gemischt werden. Es gibt auch Fragen zu Einstellungen gegenüber Sprache an sich: Warum hat Standardsprache einen höheren Status als Dialekt? Warum spreche ich mit meiner Chefin immer nur Hochdeutsch, aber im privaten Umfeld eher Dialekt?
Gibt es Überschneidungen zwischen den Fragen, die die Wissenschaft beschäftigen und denjenigen, die von Bürger*innen kommen?
Warum engagieren sich Menschen in einem solchen Forschungsprojekt? Und wie profitiert die Wissenschaft davon?
Im persönlichen Gespräch, aber auch in den Blogbeiträgen haben wir gesehen, dass ein grundsätzliches Interesse an Sprache die Grundvoraussetzung für die Teilnahme ist. Außerdem gibt es den Wunsch, zum Fortschritt in der Wissenschaft beizutragen, also an etwas Größerem, Wichtigeren, mitzuwirken. Auf der Seite der Wissenschaftler*innen geht es darum, neue Einblicke zu gewinnen und Forschungslücken zu finden: Was wurde noch nicht bearbeitet? Was interessiert die Bevölkerung? Wir haben auch gesehen, dass die Bevölkerung bestehende wissenschaftliche Erkenntnisse in Frage stellt, die nicht mit ihrem Alltagswissen übereinstimmen. Es ist spannend zu sehen, wo es im Dialog zwischen Wissenschaft und Gesellschaft zu Spannungen kommen kann, die im gemeinsamen Gespräch aufgelöst werden können.
Bei welchen Fragen gibt es solche Spannungen?
Vor allem die Frage „Sterben Dialekte aus?“ ist ein Thema, bei dem es zu Spannungen kommt. Die Teilnehmenden haben im Alltag den Eindruck, dass es immer weniger Dialekte gibt und immer mehr Standardsprache gesprochen wird. Von älteren Generationen wird beklagt, dass Jugendliche kaum mehr Dialekt sprechen. Aus Sicht der Wissenschaft muss man sagen: Sprache wandelt sich ständig. Deshalb kann man nicht einfach sagen: Dialekte sterben aus. Vielmehr durchlaufen Sprachen im Allgemeinen, und Dialekte im Speziellen, stetig Veränderungen. Diese werden aber von den Menschen als unterschiedlich schnell verlaufend wahrgenommen.