Statistiken finden sich allerorts, doch nicht selten werden sie fehlinterpretiert. Die „Unstatistik des Monats“ stellt deshalb seit 2012 aktuelle Interpretation von Daten und Zahlen aus den Medien auf den Prüfstand. Ökonom Thomas Bauer spricht im Interview über die Motivation dahinter und wieso es mehr Data-Literacy braucht.
„Statistisches Unkraut wuchert überall“
Herr Bauer, worum geht es bei der „Unstatistik des Monats“?
Mit der digitalen Revolution hat sich die Verfügbarkeit von Informationen in bislang ungeahnte Dimensionen ausgeweitet. Man kann nun jederzeit weltweit Nachrichten, Reportagen und Meinungen abrufen. Mit Statistiken, schönen Abbildungen oder Ergebnissen von Umfragen lassen sich Informationen einfach vermitteln. Man erweckt den Anschein von Seriosität und der vermeintlich wissenschaftlichen Unterstützung einer bestimmten Aussage. Statistiken eröffnen jedoch auch einen Spielraum für Manipulation, insbesondere, wenn die Adressat*innen derartiger Informationen diese nicht kritisch hinterfragen. Es fehlt hier mitunter an grundlegender Data-Literacy. Wir haben einfach vergessen, die Menschen im Gleichschritt so kompetent zu machen, dass sie all diese Fakten und Zahlen verstehen, diese kritisch hinterfragen und bemerken können, wie und wann Zahlen und deren Interpretation verdreht werden, um Meinungen, Ängste und Hoffnungen zu steuern.
Mit unserer Initiative wollen wir anhand von Beispielen aus den Medien monatlich über falsch angewandte Statistiken aufklären und falsche Interpretationen richtigstellen. Wir hoffen damit, zu einem aufgeklärten, kritischen Umgang mit Statistiken und Informationen beizutragen und die Data-Literacy zu stärken. Denn falsch angewandte Statistiken können dramatische Folgen haben. So hat der Glaube, dass medizinische Testergebnisse absolut sicher sind, zu unnötigen Selbstmorden nach HIV-Tests geführt und Menschen wurden vor Gericht verurteilt, weil Richter*innen und Experten*innen Wahrscheinlichkeiten falsch interpretiert haben.
Was genau ist unter Data-Literacy zu verstehen?
Es existiert bisher keine allgemein anerkannte Definition von Data-Literacy. Üblicherweise werden darunter die Fähigkeiten verstanden, Daten zu sammeln, diese zu organisieren und auszuwerten und die Ergebnisse statistischer Analysen richtig zu interpretieren. Die Unstatistik adressiert nur die letzte dieser Fähigkeiten. Leider ist es gerade um diese Fähigkeit eher schlecht bestellt. So hat mein Kollege Gerd Gigerenzer, Direktor am Harding-Zentrum für Risikokompetenz in Potsdam, gezeigt, dass selbst viele Mediziner wichtige Gesundheitsstatistiken nicht richtig verstehen.1 Die Ursachen hierfür sind vielfältig. So lernen unsere Kinder in der Schule immer noch vorwiegend die Mathematik der Sicherheit (Algebra, Geometrie) und eher weniger die Mathematik der Unsicherheit, wie statistisches Denken. Zweitens werden Informationen oft irreführend vermittelt. Drittens vollzieht unser Gehirn gerne Schnellschlüsse. Dazu gehört beispielsweise das Schließen von kleinen, nicht-repräsentativen Stichproben auf große, repräsentative Grundgesamtheiten, die Verwendung ungeeigneter Vergleiche oder die Überbetonung extremer Ereignisse. Diese Fehler kann man leicht vermeiden, denn der richtige alltägliche Umgang mit Statistiken kann auch ohne Statistikstudium erlernt werden. Man muss nur wollen.
An wen richtet sich die „Unstatistik“ und wie wird sie veröffentlicht?
Die Unstatistik richtet sich an die breite Öffentlichkeit. Um diese zu erreichen, veröffentlichen wir die monatliche Unstatistik als Pressemitteilung und stellen diese auf den Internetseiten der Institutionen der Teammitglieder zur Verfügung. Darüber hinaus wird sie über soziale Medien (Facebook und Twitter) verbreitet.
Wie ist das Projekt entstanden und wer ist daran beteiligt?
Am Abend einer wissenschaftlichen Konferenz haben Thomas Bauer, Empirischer Wirtschaftswissenschaftler und Vizepräsident des RWI Essen und Walter Krämer, Statistiker an der TU Dortmund über eine offensichtlich falsche statistische Studie diskutiert, über die in nahezu allen Leitmedien unkritisch berichtet wurde. An diesem Abend wurde die Idee geboren, in Anlehnung zum „Unwort des Jahres“ mit einer „Unstatistik des Monats“ über derartige Desinformationen aufzuklären. Walter Krämer konnte zudem seinen Ko-Autor Gerd Gigerenzer für die Idee begeistern. Etwas später konnten wir dann Katharina Schüller, Gründerin von STAT-UP, ein erfolgreiches Unternehmen für statistische Beratungsleistungen, für das Unstatistik-Team gewinnen.
Was sind die Erfahrungen bzw. wie war die Entwicklung über die Jahre und was war bisher das Feedback von Kolleg*innen?
Mit Beginn der Covid-19 Pandemie haben wir entschieden, vermehrt die Bedeutung wichtiger Statistiken zur Pandemie, deren Interpretation und deren Probleme zu erklären und nicht mehr nur auf statistische Fehlinformationen hinzuweisen. Seitdem ist unsere Fangemeinde noch einmal stark gewachsen.
Von Kolleg*innen haben wir bisher nur sehr positive Rückmeldungen erhalten. Außerdem bekommen wir von ihnen und unserer Fangemeinde jeden Monat Hinweise auf potentielle Unstatistiken, die wir gerne aufnehmen und nach Prüfungen des Sachverhalts auch gerne verwenden. Wir haben in der Vergangenheit zudem von Kolleg*innen geschriebene Unstatistiken veröffentlicht oder diese als Ko-Autor*innen aufgenommen.
Sind weitere Kanäle (oder ein weiteres Buch2) geplant?
Wir haben einmal kurz über ein weiteres Buchprojekt gesprochen. Mal sehen, ob wir die Zeit dafür finden. Weitere Kanäle, wie beispielsweise einen Podcast, haben wir nicht in Planung. Um einen guten Podcast zu produzieren, benötigt man viel Zeit. Und Zeit ist für alle an der Unstatistik beteiligten Personen ein sehr knappes Gut.