Der Forschungsverbund Cyber Valley will mit einer umfangreichen Public-Engagement-Strategie den Austausch zwischen Forschenden und Gesellschaft zum Thema künstliche Intelligenz fördern – und zwar dauerhaft. Für das Public-Engagement-Management sind Rebecca Beiter und Patrick Klügel verantwortlich und erklären die Strategie im Gastbeitrag.
Auf dem Weg zu einer sozial reflektierten KI-Forschung – Cyber Valley Public Engagement
Wie bringt man ein großes Forschungskonsortium, das den Austausch mit der Gesellschaft intensivieren möchte, auf den Weg zu mehr Public Engagement? Wie gestaltet man ein kommunikatives Ökosystem, in dem sich verschiedene Partner*innen aus Wissenschaft und Gesellschaft engagieren und ihre Perspektiven einbringen können? Wie reift eine diverse Public-Engagement-Community heran, die reguläre Angebote zu vielfältigen Themen und mit unterschiedlicher Interaktionsintensität nutzt? Wie führt all das zu einer Beteiligung der Gesellschaft an hochkomplexer Grundlagenforschung?
Eine schlechte Nachricht vorneweg: Wir können hier keine abschließenden Antworten auf diese Fragen geben. Doch das positive Feedback von Seiten der Wissenschaftler*innen wie auch von beteiligten Bürger*innen zeigt uns, dass der eingeschlagene Weg erfolgsversprechend ist. Unseren ersten Erfahrungen nach sind insbesondere vier Merkmale unseres Ansatzes für ein erfolgreiches Public Engagement ausschlaggebend, die wir gleich noch im Detail erläutern:
1. Verschiedene Phasen
Interaktion und Beteiligung brauchen Zeit und müssen sich entwickeln können. Die Ausrichtung auf eine lernende und wachsende Community geschieht über mehrere Jahre in sich überlappenden Schwerpunktphasen: vom Zuhören und Kennenlernen über Co-Design mit Weiterbildungscharakter bis hin zu vertiefter Deliberation und schließlich transdisziplinären Forschungsansätzen oder Social-Innovation-Projekten.
2. Co-Design/Kooperation
Die Einladung, den Dialog zwischen Wissenschaft und Gesellschaft gemeinsam zu entwickeln und zu gestalten, stößt bei unseren gesellschaftlichen Interaktionsgruppen auf sehr große Engagement-Bereitschaft. Insbesondere Co-Design-Prozesse ermöglichen, dass die unterschiedlichen Partner*innen aus Wissenschaft und Gesellschaft voneinander lernen. Über Kooperationen mit Einrichtungen der Zivilgesellschaft binden wir neue Interaktionsgruppen ein.
3. Diversität der Perspektiven
Vielstimmigkeit ist eine zentrale Herausforderung in der Wissenschaftskommunikation. Die Diversität wissenschaftlicher Einrichtungen, Disziplinen, Karrierestufen und Positionen nutzen wir gezielt für die Ansprache diverser Interaktionsgruppen.
4. Formatoffenheit
Wer sich nicht nur an etablierten Formaten orientiert, sondern zunächst in offenen Interaktionsräumen denkt, kann besser auf Bedürfnisse der Interaktionspartner und auf spontane Dynamiken unter den Teilnehmer*innen eingehen. Erst das ermöglicht oft, dass wirklich Neues entsteht.
Verschiedene Phasen: Gemeinsam an einer Geschichte schreiben, deren Ende nicht feststeht
Für uns war schnell klar, dass wir schrittweise vorgehen und unser Public Engagement als Lernprozess aller Beteiligten gestalten wollen. Als erstes haben wir intern für das Thema sensibilisiert, um bei den Entscheider*innen, Stakeholdern sowie Multiplikator*innen einen Grundkonsens darüber zu erreichen, dass Public Engagement keine klassische Unternehmenskommunikation ist. Dann begann das interne Community Building innerhalb des Cyber Valleys: Wer sind eigentlich diejenigen unter den hunderten von Forschenden, die sich stärker engagieren möchten? Wieviel Zeit können sie aufwenden, welchen Grad an Interaktion „vertragen“ sie? Mit wem möchten sie interagieren?
Diese und weitere Kriterien haben wir in einer Umfrage unter den wissenschaftlichen Verbundpartner abgefragt. Gleichzeitig haben wir bereits dazu passende konkrete Formatideen zur Abstimmung angeboten. An der Umfrage haben rund 170 Wissenschaftler*innen (88 vollständige Fragebögen=n) teilgenommen – vom Masteranden bis zur Direktorin – und mehr als 350 Interessenbekundungen (164 bei n=88) für die verschiedenen Formatangebote abgegeben:
Co-Design/Kooperation: Kontinuierliches Lernen von und mit Partnern
Mit dem Rückenwind aus der initialen Umfrage gingen wir in die Gestaltung und Umsetzung der beliebtesten Formate und in die kooperative Entwicklung zusätzlicher Dialogaktivitäten.
Wir entwickelten beispielsweise den Podcast „Direktdurchwahl“. Dafür wird einmal im Monat ein Interview mit einer Person aus der Gesellschaft über ihre Perspektive auf künstliche Intelligenz oder KI-Anwendungen geführt. Einen 20-minütigen Zusammenschnitt davon spielen wir dann einem oder einer Forschenden vor und bitten im Interview um eine wissenschaftliche Reaktion auf die Gedanken, Sorgen und Ideen dieser Bürger*innen. Das letzte Wort hat dann wieder die Stimme aus der Gesellschaft. Aus den Inhalten des Podcasts entstehen spontan weitere Aktivitäten. So führte die zweite Folge „KI in der Arbeitswelt“, in der wir eine Gewerkschaftsvertreterin interviewten, zu einem Weiterbildungs- und Vernetzungsangebot für Betriebsrät*innen. In der dritten Folge zum Thema KI und Selbstoptimierung entstand wiederum die Idee, gemeinsame Ausfahrten regionaler Radsportvereine mit KI-Forschenden zu organisieren.
Ein anderes reguläres Format ist die KI-Sprechstunde. Einmal im Monat bietet sie allen Interessierten die Möglichkeit, zwei Cyber-Valley-Forschende kennenzulernen und in entspannter Atmosphäre Fragen zu künstlicher Intelligenz zu stellen. Die Ausgaben haben jeweils einen thematischen Schwerpunkt. Das ermöglicht es den Forschenden, in einem achtminütigen Input ihre Forschungsfrage vorzustellen und erleichtert es, Anknüpfungspunkte für Fragen und Diskussion zu finden. In den ersten beiden Ausgaben hat sich gezeigt, dass die Teilnehmer*innen besonders sehr grundsätzliche Fragen zu künstlicher Intelligenz und zu den Zielen der Forschung an dieser Technologie stellen.
Für erste kooperative Formatentwicklungen haben wir eine Fokusgruppe KI und Gesellschaft mit sieben Bürger*innen mit ganz unterschiedlichen Hintergründen eingerichtet. Hier diskutieren wir im vertraulichen Rahmen, zu welchen KI-Themen Wissenschaft und Gesellschaft auf welche Art und Weise ins Gespräch kommen müssen. In den ersten drei Workshops wurde immer wieder deutlich, wie wichtig es ist, gerade im Zusammenhang mit Forschung an künstlicher Intelligenz den Entstehungskontext der Ergebnisse und die Motivation der Forschenden transparent zu machen. Denn die Bürger*innen wollen vor allem über ethische Fragen, Ziele und gesellschaftliche Konsequenzen der Forschung diskutieren. Dabei entdeckt man dann auch überraschende Gemeinsamkeiten, wie einer der Teilnehmer feststellt: „Die Forschenden machen sich bereits viele Gedanken über die Fragen, die wir uns auch stellen!“
Darüber hinaus haben wir in einer Workshop-Reihe mit Studierenden aus Medienwissenschaften und Machine Learning Co-Design-Prozesse aus dem agilen Management erprobt. Mit dem Auftrag, Projekte für den Dialog zwischen Forschenden und regionale Interaktionsgruppen zu konzipieren, entwickelten interdisziplinäre Teams drei Formate, die wir als Public-Engagement-Manager gemeinsam mit den Studierenden umsetzen. Die Ergebnisse waren dabei allerdings eher ein Nebeneffekt. Hauptsächlich ging es darum, im „learning by doing“ Grundlagen der Wissenschaftskommunikation wie Zielgruppenorientierung und den Umgang mit eigenen Ressourcen zu vermitteln.
Ein Projekt, das wir von Beginn an gemeinsam mit der Zielgruppe entwickeln, ist der KI-Makerspace. Das wird ein außerschulischer Lernort zur Beschäftigung mit Funktionsweisen, Techniken und Anwendungen sowie den gesellschaftlichen Auswirkungen von künstlicher Intelligenz. In einem ersten gemeinsam mit dem Jugendgemeinderat organisierten Workshop konnten über 60 Schüler*innen der Region ihre Vorstellungen und Wünsche an Raum und Programm formulieren. In der weiteren Umsetzung werden die Jugendlichen weiter Verantwortung für ihren Makerspace übernehmen können.
Diversität der Perspektiven: Vielstimmigkeit in Forschung und Gesellschaft als Chance begreifen
Dialog ist bei allem, was wir anstoßen, eine zentrale Leitlinie. Das heißt: Alle Beteiligten sollten die Möglichkeit für ähnliche Redeanteile haben sollten und ihre Sichtweisen oder Expertisen einbringen können. In der ersten Phase unseres Public Engagements stellen wir das Zuhören der Wissenschaftler*innen in den Vordergrund. Im eigens dafür entwickelten Format „Cyber Valley on the road“ drehen wir das klassische Verhältnis einfach um: Bürger*innen können hier unsere Forschenden zu sich nach Hause einladen und sich bei einer Tasse Tee oder Kaffee interviewen lassen. Auch wenn das Angebot, vermutlich Pandemie-bedingt, noch nicht angenommen wurde, erwarten wir von diesem „aufsuchenden Public Engagement“ starke Lerneffekte für unsere Forschenden: Bei welchen Erzählungen und Vorstellungen von künstlicher Intelligenz müssen sie in ihrer Kommunikation ansetzen? Die Bandbreite an Perspektiven möchten wir nicht nur zulassen, sondern auch dafür zu nutzen, dass vielfältige Interaktionsgruppen einbezogen werden. Die Profile der wissenschaftlichen Partner des Forschungsverbunds erleichtern es, Anknüpfungspunkte bei ganz unterschiedlichen Interaktionsgruppen zu finden: von Schüler*innen, die mit 3D-Druckern arbeiten oder Science-Fiction-Filme diskutieren wollen, über Wissenschaftsjournalist*innen, die KI-basierte Tools für Recherchen nutzen oder Künstler*innen, die mit der Technologie experimentieren bis hin zu Kritiker*innen, die konkrete Vorschläge für Regulierung einbringen. Bei alldem erweist sich unsere regionale Fokussierung als großer Vorteil. Über regionale Bezüge lassen sich gesellschaftliche Partner wie die Volkshochschulen, lokale Kultureinrichtungen oder Vereine mit jeweils eigenen Communities schneller für Kooperationen gewinnen – und genau das verbreitert den Diskurs enorm.
Formatoffenheit: Es geht nicht um Formate, sondern um Community Building
Bei aller Formatentwicklung lohnt es sich aber, immer wieder einen Schritt zurückzutreten und den Gesamtzusammenhang zu sehen: Die für eine soziale Reflektion von KI-Forschung und KI-Anwendungen notwendige Community entsteht dann, wenn Forschende und Bürger*innen merken, dass ihr spezifischer Beitrag bei einer Gemeinschaftsaufgabe benötigt wird, dass ihre Perspektive wertvoll ist und dass ihr Engagement etwas bewirken kann. Dafür ist es grundlegend erforderlich, dass möglichst viele Menschen konstruktiv miteinander sprechen, ihre Perspektiven aktiv einbringen, voneinander lernen und ein gemeinsames Ziel formulieren. In welchen Formaten dies geschieht, ist letztlich sekundär.
Projektsteckbrief
Ziele: Die Public-Engagement-Strategie des Forschungsverbunds Cyber Valley zielt darauf ab, dauerhafte regionale Interaktionsräume für den Austausch von KI-Forschenden mit vielfältigen Zielgruppen in der Gesellschaft zu etablieren. Bürger*innen und Laien unterstützen die Forschenden dabei, die gesellschaftlichen Auswirkungen ihrer Arbeit und der KI-Technologie zu bedenken und zu diskutieren. Forschende schaffen Transparenz und vermitteln „Scientific Literacy“ für informiertes Vertrauen. Mittelfristig soll so auch eine Community für transdisziplinäre Forschungsansätze entstehen.
Zielgruppe: Die Formate haben zunächst eine Ausrichtung auf Bürger*innen der Region Tübingen-Stuttgart mit einem Fokus auf Gruppen, die sich bisher kaum mit KI beschäftigt haben, in ihrem beruflichen Umfeld oder in naher Zukunft aber besonders stark von KI-basierten Anwendungen betroffen sein werden wie zum Beispiel Arbeitnehmer*innen produzierender Betriebe/Betriebsrät*innen, Schüler*innen oder medizinisches Personal.
Team: Rebecca Beiter und Patrick Klügel, Public-Engagement-Management des Cyber Valley mit Unterstützung aus dem Managing-Office bei Organisation und Kommunikation der Veranstaltungen und Projekte.
Träger/Budget: Die Formate werden als Projekte der Cyber-Valley-Konsortialpartner – Max-Planck-Institut für Intelligente Systeme, Universität Stuttgart und Universität Tübingen – durchgeführt. Für die verschiedenen Public-Engagement-Maßnahmen stellen die Partner ein Jahresbudget in niedriger sechsstelliger Höhe zur Verfügung.
Daten zur Zielerreichung: Da die Initiative Ende März erst gestartet ist, lassen sich hier bisher nur Zwischenstände und auch noch keine qualitativen Einschätzungen oder gar Evaluationsergebnisse angeben. Zudem sind einige Formate experimentell gehalten und es kommen laufend neue hinzu. Geplant war ursprünglich, dass sich im ersten Jahr, 2021, mindestens 40 Forschende in den regelmäßigen Formaten engagiert haben und mindestens 500 Teilnehmer*innen aus den Interaktionsgruppen verschiedene Angebote genutzt haben. Darüber hinaus sind aber auch für die einzelnen Formate grobe Zielgrößen festgelegt.
- Podcast Direktdurchwahl: Geplant ist die Produktion von 9 Folgen im Jahr 2021 mit je zwei Teilnehmer*innen.
- KI-Sprechstunde: Geplant ist die Teilnahme von 24 Forschenden und mindestens 360 Bürger*innen im Jahr 2021, also pro Ausgabe 30 Teilnehmer*innen. An den ersten beiden Ausgaben haben insgesamt 55 Personen teilgenommen.
- Co-Design KI-Makerspace-Workshops: Geplant sind zwei Workshops mit je 30 Jugendliche/Schüler*innen. Bereits am ersten Workshop haben über 60 Schüler*innen teilgenommen.
- Co-Design Workshops mit Studierenden: Geplant waren Teams mit je fünf Masterstudierenden aus Medienwissenschaft und Machine Learning sowie die Entwicklung von fünf Public Engagement-Formatideen. Es wurden drei Formate entwickelt, die bis 2022 umgesetzt werden.
- Cyber Valley unterwegs: Geplant waren zwölf Interviews im Jahr. Bisher gab es nur eine Anfrage einer Bürgerin. Dieses Angebot wird leider noch nicht wie erhofft angenommen. Das ist vermutlich auch durch die Pandemie bedingt.
- Fokusgruppe KI und Gesellschaft: Geplant waren vier Termine mit je acht Teilnehmer*innen. Drei Termine haben bereits stattgefunden
- KI-Kompakt für Betriebsräte: Geplant ist die Teilnahme von vier Forschenden und 15 Betriebsrätinnen.
Übertragbarkeit: Die Entwicklung von Public-Engagement-Formaten sollte immer aus dem jeweiligen Zusammenhang heraus erfolgen, im besten Falle sogar gemeinsam mit den Interaktionsgruppen. Das heißt, auch Co-Design ist Teil des Lernprozesses für mehr Beteiligung. Übertragbar sind deshalb möglicherweise weniger die konkreten Dialogformate, sondern eher der Weg dorthin. Wir haben zunächst intern erklärt, was Public Engagement ist und wie es sich von klassischer Kommunikation unterscheidet. Dann haben wir unsere Wissenschaftler*innen in einer Online-Umfrage gefragt, mit wem sie in der Gesellschaft auf welche Weise interagieren möchten. Zumindest diese einfache Frage ist übertragbar. Für das Management der Antworten und die Konsequenzen gibt es dann kein allgemeingültiges Rezept.
*Gastbeiträge spiegeln nicht zwangsläufig die Meinung der Redaktion wider.