Impulse für das Wissenschaftssystem nach der Pandemie
Der Wissenschaftsrat hat sich in einem Impulspapier mit den Herausforderungen, Auswirkungen und Lehren aus der Corona-Krise für das Wissenschaftssystem befasst. Annette Barkhaus, stellvertretende Leiterin der Abteilung Forschung des Wissenschaftsrats, gibt Einblicke in das Papier.
Rebecca Winkels ist studierte Biologin und Wissenschaftsjournalistin. Sie war Projektleiterin für das Portal Wissenschaftskommunikation.de. Sie ist bei Wissenschaft im Dialog tätig.
Das Impulspapier ist vom Forschungsausschuss des Wissenschaftsrates vorbereitet worden. Es gab Ende Mai eine Ausschusssitzung, in der die Mitglieder zum ersten Mal über Auswirkungen der COVID-19-Krise auf das Wissenschaftssystem reflektiert haben. Zu Beginn der Pandemie gab es förmlich ein Diskursfeuer über die unterschiedlichsten Aspekte der Pandemie und erste empirische Untersuchungen zur Situation weltweit an Hochschulen und in der Forschung wurden sehr schnell auf den Weg gebracht. Basierend darauf haben wir darüber nachgedacht, welche Bedeutung Wissenschaft in dieser Zeit zukommt und ob das Wissenschaftssystem dafür richtig aufgestellt ist.
Blickt man zurück in den Mai 2020, so war die Situation damals eine andere. Denn in Deutschland hatte man den Eindruck gewonnen, die Pandemie sehr gut gemeistert zu haben. Das Ziel war es, den Aufbruch, den die Krise mit sich brachte, als Impuls für notwendige Transformationen des Wissenschaftssystems, wie zum Beispiel den digitalen Wandel, zu nutzen und diese voranzutreiben.
Haben sich die Bedürfnisse bezüglich der Transformation durch die Krise nun einschneidend verändert oder geht es darum, begonnene Prozesse noch stärker umzusetzen?
Uns war relativ schnell klar, dass Letzteres nicht ausreichen würde. Um es bildlich darzustellen: Der Zug wurde nicht nur aufgrund eines Unfalls etwas abgebremst und umgeleitet, um ihn im Anschluss an die Krise wieder auf die gleiche Schiene zu setzen. Vielmehr bedeutet die Krise eine Zäsur, wie wir gesagt haben, sodass wir uns Gedanken über neue Streckenverläufe machen müssen. Wissenschaft hat hier auch die Aufgabe, neue Wege zu entwickeln.
Wie wird ein solches Papier dann konkret erarbeitet?
In diesem Fall in einem hohen Maße partizipativ und für die Verhältnisse des Wissenschaftsrates sehr schnell. Partizipativ bedeutet hier, dass wir mit jedem einzelnen Mitglied des Wissenschaftsrats ein ausführliches Gespräch geführt haben, um seine oder ihre Erfahrungen und Einschätzungen einfangen zu können. Die einzelnen Kapitel, die jeweils eine Herausforderung, wie etwa Internationalisierung oder digitale Souveränität, thematisieren, haben wir dann noch mal in der Tiefe diskutiert mit einzelnen Mitgliedern des Wissenschaftsrats, die besondere Expertise in dem jeweiligen Feld haben. So deckt das Papier die Eindrücke unterschiedlicher Wissenschaftsdisziplinen ab und bezieht auch die Perspektive der Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens mit ein, die ja auch Mitglieder des Wissenschaftsrats sind und zum Beispiel in der Wirtschaft oder in den Medien arbeiten.
Was sind die wichtigsten Impulse aus dem Papier?
„Eine der wesentlichen Einsichten im Papier ist an dieser Stelle, dass wir informelle Netzwerke zwischen politischen und wissenschaftlichen Akteur*innen benötigen.“Annette Barkhaus
Was die wichtigsten Impulse sind, ist natürlich keine einfach zu beantwortende Frage. Bestimmte Themen lagen auf dem Tisch: So stand das Thema Wissenschaftskommunikation beispielsweise schon vorher auf der Agenda des Wissenschaftsrats und hat nun noch mal an Schwung gewonnen. Hier bietet das Impulspapier eine erste Reflexion, die nun weiter vertieft werden kann. Ebenso klar war es, dass das Thema Politikberatung in dem Papier eine Rolle spielen würde. Schon allein, weil es so präsent war wie wohl noch nie zuvor. Hier galt es selbstkritisch zu fragen, ob das Wissenschaftssystem dauerhaft gut aufgestellt ist, um zügig und adressatengerecht reagieren zu können. Daher haben wir auch von Krisenreaktionsfähigkeit gesprochen. Eine der wesentlichen Einsichten im Papier ist an dieser Stelle, dass wir informelle Netzwerke zwischen politischen und wissenschaftlichen Akteur*innen benötigen. Solche Netzwerke können dann als Nährboden für eine informelle Politikberatung fungieren. Es ist klar geworden, dass wir nicht erst in der Krise anfangen können, Räte und Gremien zusammenzustellen.
Die Krise hat außerdem gezeigt, wie stark auch das Wissenschaftssystem von digitalen Angeboten aus dem Silicon Valley oder China abhängt, die als De-facto-Regulierer fungieren. Daher spielt die Frage von Souveränität und Sicherheit im digitalen Raum im Papier eine wesentliche Rolle, ebenso wie die Frage, wie es mit der Internationalisierung angesichts des Einbruchs der Mobilität und vor dem Hintergrund der in der Krise noch einmal deutlicher gewordenen geopolitischen Machtverschiebungen weitergehen soll. Dabei geht es um die Entwicklung neuer Strategien der Internationalisierung.
In einem nächsten Schritt werden der Forschungsausschuss und auch der Vorstand des Wissenschaftsrates eine Priorisierung der unterschiedlichen Herausforderungen anstreben. Dabei soll geprüft werden, welche dieser Punkte der Wissenschaftsrat noch mal vertieft bearbeiten sollte.
Sie haben die Bedeutung der Wissenschaftskommunikation eingangs bereits erwähnt. Was sind hier aus Ihrer Sicht die wesentlichen Elemente, die im Papier behandelt werden?
„Im Papier geht es um Kommunikation in der Krise und nicht um Krisenkommunikation, die eine Einrichtung in einer Krisensituation zu leisten hat.“Annette Barkhaus
Vorweg möchte ich sagen: Im Papier geht es um Kommunikation in der Krise und nicht um Krisenkommunikation, die eine Einrichtung in einer Krisensituation zu leisten hat. Dieser Unterschied ist sehr wichtig. Die Krise ist so existenziell für den*die Einzelne*n wie für die Gesellschaft, dass das Vertrauen in die Wissenschaft gerade zu Beginn der Pandemie stark gestiegen ist. Auf ihr ruhten die Hoffnungen, aus der Krise wieder herauskommen zu können. Das zeigen beispielsweise die Ergebnisse des Wissenschaftsbarometer Spezial aus dem April 2020. Es hätte also der Eindruck entstehen können, dass erstmal alles auch in puncto Wissenschaftskommunikation in Ordnung ist. Allerdings ging das Vertrauen bereits im Herbst wieder zurück. In dem Moment, in dem die unmittelbare Betroffenheit des*der Einzelnen wieder in den Hintergrund trat, wurden Elemente, die es im Vorfeld der Krise gab, wieder stärker sichtbar. Damit meine ich beispielsweise eine gewisse Skepsis gegenüber der Wissenschaft als Teil der Elite. Das Bild des Brennglases ist inzwischen zwar schon etwas verbraucht, aber in diesem Fall passt es wohl immer noch: Wir konnten viele bekannte Probleme verstärkt wahrnehmen, wie etwa die Mehrstimmigkeit von Wissenschaft.
Was genau ist damit gemeint?
„Es geht um die wichtige Frage, zu welchem Zeitpunkt wissenschaftliches Wissen in einer pluralen Gesellschaft kommuniziert werden kann.“Annette Barkhaus
Wir sehen Mehrstimmigkeit normalerweise eher als Entwicklung über die Zeit im Sinne der stetigen Anpassungen von Einschätzungen an den neuesten Erkenntnisstand. Diesmal gab es jedoch eine Art von synchroner Mehrstimmigkeit, die wir sonst selten sehen. Hier wird aus meiner Sicht ein Spannungsverhältnis deutlich. Es geht um die wichtige Frage, zu welchem Zeitpunkt wissenschaftliches Wissen in einer pluralen Gesellschaft kommuniziert werden kann. Man konnte zum Teil den Eindruck gewinnen, dass zu viel und zu früh kommuniziert wurde. Verantwortung der Wissenschaftskommunikation in der Krise bedeutet daher auch, konsolidiertes Wissen zu kommunizieren und die Bedingungen, unter denen es gewonnen wurde, mitzukommunizieren. Dieses Spannungsfeld hat sich in der Krise einer breiten Öffentlichkeit offenbart. Damit müssen Wissenschaftler*innen nun umgehen.
Als eine weitere Anforderung wird im Papier Selektivität beschrieben. Was ist daran so wichtig?
„Für die Wissenschaft bedeutet dies, dass sich die Kommunikation stärker an den Fragen und Bedürfnissen der Adressat*innen ausrichten sollte.“Annette Barkhaus
Die Diskussion um Filterblasen ist nicht neu und nicht erst in der Krise aufgekommen. Jede*r nimmt Wissenschaft anders wahr und selektiert die Ergebnisse auch anders. Das ist normal und auch in Ordnung so. Der Begriff Selektivität erlaubt es, diese Unterschiede neutraler darzustellen. Er schützt uns davor, zu sagen, dass es eine Gruppe gibt, die sich gegen Wissenschaft sperrt, und eine, die dafür offen ist. Es geht darum, eine selektive Wahrnehmung und Rezeption von Wissenschaft und ihre Legitimität anzuerkennen und zugleich zu fordern, sie zu berücksichtigen. Darin liegt der Mehrwert dieses Begriffs. Damit kämpft natürlich nicht nur das Wissenschaftssystem, sondern die Gesellschaft insgesamt. Für die Wissenschaft bedeutet dies, dass sich die Kommunikation stärker an den Fragen und Bedürfnissen der Adressat*innen ausrichten sollte. Aus meiner Sicht kann Wissenschaftskommunikation trotz aller Anstrengungen dabei aufgrund der skizzierten Selektivität an Grenzen stoßen.
Im Papier geht es des Weiteren um Unterstützungsstrukturen für die Wissenschaft. Was genau ist damit gemeint und inwiefern ist dies etwas Neues?
„Dafür ist es notwendig, dass die einzelnen Wissenschaftler*innen auf diese Aufgabe vorbereitet werden und rollensensitiv auf Anfragen reagieren können.“Annette Barkhaus
Die Forderung nach Unterstützungsstrukturen ist nicht neu. Der Wissenschaftsrat hat 2016 ein Papier zum Thema „Wissens- und Technologietransfer als Gegenstand institutioneller Strategien“ veröffentlicht. In diesem Papier hat die Wissenschaftskommunikation bereits als ein Handlungsfeld des Transfers eine große Rolle gespielt. Auch damals schon ging es darum, Unterstützungsstrukturen für Wissenschaftler*innen zu schaffen. Denn vielfach besteht das Bedürfnis aufseiten der Adressat*innen nicht allein darin, mit Kommunikator*innen ins Gespräch zu kommen, sondern mit Wissenschaftler*innen selbst. Dafür ist es notwendig, dass die einzelnen Wissenschaftler*innen auf diese Aufgabe vorbereitet werden und rollensensitiv auf Anfragen reagieren können. Es geht darum, klar zu unterscheiden, ob man beispielsweise als Privatperson, als Wissenschaftler*in mit Expertise auf einem Gebiet oder etwa als Repräsentant*in einer Einrichtung spricht. Diese Fähigkeit zur rollensensitiven Kommunikation muss in der Regel erlernt werden, ebenso der Umgang mit der Eigenlogik des medialen Systems. Hier wäre es sicherlich sinnvoll, Weiterbildungen – auch bereits in frühen Qualifizierungsphasen – oder beispielsweise Module im Rahmen von Masterstudiengängen anzubieten. Darauf sind wir im Transferpapier bereits näher eingegangen. Dort wurde auch auf die Bedeutung von Transfer und damit von Wissenschaftskommunikation als Teil der Strategie von Hochschulen und Forschungseinrichtungen eingegangen. Insgesamt hat sich in diesem Bereich seither viel zum Positiven entwickelt.
Inwiefern ist das krisenspezifisch?
Die Kommunikation in der Krise war sehr klar auf ein Thema konzentriert. Tritt man aber einen Schritt zurück und betrachtet eine Situation, in der nicht ein Thema den Diskurs bestimmt, stellt sich für eine Einrichtung – denken Sie etwa an eine große Volluniversität – die Frage, wie sie Themen auswählt, die es zu kommunizieren gilt. Vor diesem Hintergrund haben wir in dem Transferpapier von 2016 eine Potenzialanalyse empfohlen, um die Schwerpunkte der Wissenschaftskommunikation für eine Hochschule oder eine Forschungseinrichtung überhaupt bestimmen zu können. Diese Empfehlung ist, so glaube ich, immer noch aktuell.
Derzeit ist ja sehr viel los im Bereich der Strategieentwicklung in der Wissenschaftskommunikation. Es gibt ein Papier der Allianz, ein Papier der #FactoryWisskomm und es ist ein weiteres vom Wissenschaftsrat in Arbeit. Inwiefern droht hier die Gefahr, am Ende zwar viele Gedanken zu haben, aber keine einheitliche Herangehensweise?
Das ist zu diesem Zeitpunkt ein Blick in die Zukunft, der noch nicht möglich ist. Ich habe allerdings bereits vor der Krise einen Bedeutungszuwachs von Wissenschaftskommunikation wahrgenommen, auch wenn dieser noch nicht immer in die Reputationslogik des Wissenschaftssystems eingeflossen ist. Es gibt aber ein verstärktes Bewusstsein dafür, dass Wissenschaftskommunikation fester Bestandteil einer Strategieentwicklung sein sollte und es gibt erste erfolgversprechende Bemühungen auf diesem Feld. Dies ist krisenunabhängig der Fall.
„Jede Einrichtung ist gefordert, eine eigene Strategie, aufbauend auf ihren Stärken, ihrem Profil, zu entwickeln.“Annette Barkhaus
Eine Universität ist eben kein Unternehmen wie beispielsweise Mercedes, wo ich eine Presse- und Öffentlichkeitsarbeit im Sinne von Public Relations betreibe, sondern hier geht es um Wissenschaftskommunikation. Der Unterschied ist wichtig. Jede Einrichtung ist gefordert, eine eigene Strategie, aufbauend auf ihren Stärken, ihrem Profil, zu entwickeln. Ich denke, die entscheidende Voraussetzung für eine erfolgreiche Strategie ist die Potenzialanalyse. Denn vielfach weiß die Leitung gar nicht, welche Perlen in ihrer Einrichtung verborgen sind. Best Practice-Beispiele müssen immer auf die einzelne Einrichtung heruntergebrochen und angepasst werden. In jedem Fall kostet gute Wissenschaftskommunikation Ressourcen und zwar personelle, zeitliche und finanzielle. Gerade für Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler ist Zeit eine knappe Ressource.
Was erhoffen Sie sich von dem Papier insgesamt?
Ich denke, das Papier entwickelt seinen größten Impact, wenn die Impulse von unterschiedlichen Akteur*innen im Wissenschaftssystem – und dazu zählt in diesem Fall auch die politische Seite – aufgegriffen und diskutiert werden. Bisher ist eine hohe Bereitschaft zu beobachten, sich mit dem Papier auseinanderzusetzen. Ich bin also zuversichtlich.