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Was ist, bitte schön, eine Lockdown-Lethargie?

Eine vermeintlich lockere Werbe-E-Mail wirft den Leser*innen implizit vor, wenn nicht gar an Bewusstseinsstörungen, dann doch zumindest an Teilnahmslosigkeit zu leiden. Wissenschaftskommunikatorin und Redakteurin Silvia Zerbe nutzt sie als Anlass, um für mehr Präzision und exakte Formulierungen in der Kommunikationsarbeit zu plädieren. Eine Sprachkritik.

„Schluss mit Lockdown-Lethargie!“ Mit diesen Worten erreichte mich eine E-Mail, die mich anregen sollte, an einer Weiterbildung einer großen deutschen Medienakademie teilzunehmen. Tatsächlich regte mich die Formulierung nicht an, sondern einfach nur auf. Was, bitte schön, ist eine Lockdown-Lethargie? Wikipedia lehrt mich, dass das altgriechische Wort Lethargie in der Medizin eine Form der Bewusstseinsstörung bezeichnet, die mit Schläfrigkeit und einer Erhöhung der Reizschwelle einhergeht. Na toll, was will man mir damit mitteilen? Dass ich mittlerweile dank Homeschooling-Verpflichtungen genervt bin und das Ganze am Ende womöglich noch zu einer Bewusstseinsstörung führt? Soweit bin ich trotz aller Belastungen zum Glück noch nicht.

„Was unterstellt man den Leser*innen eigentlich? Unwilligkeit und Unfähigkeit?“ Silvia Zerbe
Natürlich geht es den Schreiber*innen mit der vermeintlich pfiffigen Idee gar nicht um Lethargie als Krankheit, sondern um die übertragene Bedeutung des Wortes. Auch dazu werde ich bei Wikipedia fündig, dort heißt es: „Der Begriff wird oft auch im übertragenen Sinne verwendet, um eine durch unangenehme oder tragische Ereignisse erzeugte Teilnahmslosigkeit und Unwilligkeit beziehungsweise Unfähigkeit zu Veränderungen auszudrücken.“ Das macht mich jetzt wirklich sprachlos … Was unterstellt man den Leser*innen eigentlich? Unwilligkeit und Unfähigkeit?

Nach mehreren Wochen Homeschooling mit zwei Kindern fühle ich mich jedenfalls alles andere als teilnahmslos und auch nicht ansatzweise unwillig. Im Gegenteil: Nur durch Willen und wahnsinnig viel Geduld schaffen wir Eltern es, die Aufgaben parallel zu händeln. Ach ja, und nebenbei wuppen wir abends noch die Arbeit, damit niemand mitbekommt, dass wir tagsüber doch nicht so viel geschafft haben. Zum Glück – und dafür bin ich dankbar – arbeite ich in einer Umgebung, die sehr viel Verständnis für diese Herausforderungen aufbringt. Aber Unfähigkeit zu Veränderungen – das kann man in dieser Situation wahrlich niemanden vorwerfen.


„Wo ist der kritische Blick auf die Sprache?“
Silvia Zerbe
Was mich umso mehr erstaunt: Warum ist niemanden von dieser Akademie, die immerhin viele Kurse zum journalistischen Schreiben anbietet, aufgefallen, dass die Wortschöpfung „Lockdown-Lethargie“ nicht nur völlig daneben, sondern geradezu ein Hohn ist? Wo ist der kritische Blick auf die Sprache? Man mag den kreativen Werbetextern zugutehalten, dass sie eine tolle Alliteration gefunden haben, und dann ist da noch die großartige Ironie in diesem Wortspiel.

Aber in diesem Fall bin ich tatsächlich etwas altmodisch und obendrein auch unwillig zu Veränderungen: Denn ich finde nach wie vor, dass Sprache genau und der Einsatz von Fremdwörtern präzise sein muss. Im Übrigen gilt für mich, was Wolf Schneider in seinem Klassiker „Deutsch für Profis“ schrieb: „Ohne Mätzchen schreiben, nicht mit Wörtern protzen, nicht auf Glatzen Löckchen drehen – das ist eine klare Regel, über die alle Stilisten von Rang und alle Lehrer der Stilkunst sich einig sind. Mit ihrer Befolgung wäre viel gewonnen.“ Das finde ich auch. Auch wenn ich mit dieser Meinung lethargisch bin.

Was hat mich inspiriert, diese Glosse zu schreiben?

„Schnell ist ein flotter Spruch geschrieben oder eine reißerische Überschrift formuliert. Nicht nur Wahrheit bleibt dabei manchmal auf der Strecke.“ Silvia Zerbe
Viele Expert*innen in den Kommunikationsabteilungen beobachten schon lange den sorglosen Umgang mit Sprache – in der Werbung, aber auch in den Medien. Schnell ist ein flotter Spruch geschrieben oder eine reißerische Überschrift formuliert. Nicht nur Wahrheit bleibt dabei manchmal auf der Strecke. Der nachlässige Einsatz der Sprache kann auch verletzend sein. Das zeigen die Beschwerden, die jedes Jahr beim Deutschen Presserat eingehen.

Was hat das mit uns Wissenschaftskommunikator*innen zu tun? Exakte Formulierungen zu komplexen Sachverhalten zu finden, ist Teil unserer täglichen Arbeit. Wir führen viele Diskussionen mit Forscher*innen und fragen: Muss dieser Fachbegriff wirklich sein? Und wenn er unvermeidbar ist, überlegen wir: Wie kann ich ihn verständlich erklären und einführen? In der Wissenschaftskommunikation sollte es ein Tabu sein, Wörter, die aus anderen Fachsprachen kommen – wie im obigen Fall die Lethargie – unreflektiert einzusetzen. Und deshalb reagieren viele auf solche Sprachauswüchse nur mit Kopfschütteln.

„Mit einer sachlichen Sprache erreichen wir mehr als mit missverständlichen, bildlichen Begriffen. Und das dürfte ganz im Sinne unserer Leserschaft sein.“ Silvia Zerbe
Darüber hinaus kann es auch sinnvoll sein, die Absichten, die hinter den Begriffen stehen, zu hinterfragen. Ist Ihnen zum Beispiel aufgefallen, dass die Politik nicht mehr vom Homeschooling spricht, sondern neuerdings vom Distanzunterricht? Klingt doch schon mal viel besser und irgendwie auch entlastender für die Eltern. Aber ist es das wirklich? Sie merken, worauf ich hinauswill. Sprache liefert immer auch einen Deutungsrahmen mit, den Kommunikationswissenschaftler*innen als Framing bezeichnen. Deshalb ist es wichtig, dass sich Wisssenschaftskommunikator*innen die Macht der Sprache ab und zu vergegenwärtigen und möglichst auf „die Löckchen auf der Glatze verzichten“. Mit einer sachlichen Sprache erreichen wir mehr als mit missverständlichen, bildlichen Begriffen. Und das dürfte ganz im Sinne unserer Leserschaft sein.

Gastbeiträge spiegeln nicht zwangsläufig die Meinung unserer Redaktion wider.