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Die Ironie des Regelsets

Sollten sich Forschende in ihrer Kommunikation mehr auf Evidenz und weniger auf Storytelling fokussieren? Das fordert ein Beitrag auf Nature.com und stellt fünf Regeln für Evidenzkommunikation vor. Sozialpsychologe Martin W. Bauer findet diese „Aufräumarbeiten“ zu kurz gegriffen und schlägt in seinem Kommentar drei weitere Regeln vor.

Die Autorinnen und Autoren distanzieren sich in ihrem Beitrag „Five rules for evidence communication“ vom Geschichtenerzählen (Storytelling), engagierter Sprache und Überzeugungsarbeit. Reine Evidenzkommunikation sollte all dies vermeiden. Das Ziel sei es, Entscheidungen zu unterstützen und dabei Handlungsanweisung zu vermeiden. Die Kommunikation sollte dabei fünf Regeln folgen: (1) Inform, not persuade; (2) Offer balance, not false balancs; (3) Disclose uncertainties; (4) State evidence quality; (5) Inoculate against misinformation.

- Inform, not persuade
- Offer balance, not false balance
- Disclose uncertainties
- State evidence quality
- Inoculate against misinformation
Blastland und Team
auf Nature.com
Ein Regelwerk als Checkliste kann sehr nützlich sein. Dabei verdichtet man viele empirische Beobachtungen in praktische Anweisungen; man konstruiert eine Gedächtnishilfe und vermeidet Unterlassungsfehler in der hektischen Praxis. Diese Checklisten dienen als Werkzeug für bestimmte Zwecke, wie etwa das BRAUNS-Schema zur Entscheidungsfindung, die im Dezember in der britischen Zeitschrift „Private Eye“ (18. Dezember 2020, S. 6) diskutiert wurde. Dieses besagt: Um Entscheidungen zu erleichtern, sollten sich die Personen Gedanken machen über Nutzen (Benefits), Risiken, Alternativen, Unwägbarkeiten, was, wenn man „Nichts“ tut? und ein Sicherheitsnetz, falls die Dinge doch schief gehen. Bei Private Eye weiß man allerdings nicht genau, ob das Schema eine Satire auf solche Checklisten oder ernst gemeint sei.

Regeln und Checklisten vs. Rhetorik und Storytelling?

Wie dem auch sei, für solche Checklisten gibt es Konkurrenz, zum Teil auch sehr alte: „Man spreche klar, vermeide Mehrdeutigkeiten; amplifiziere die eigenen und verniedliche die Gegenargumente; und fixiere die Aufmerksamkeit“ der Zuhörerinnen und Zuhören, heißt es in der Quasi-Aristotelischen „Rhetorik an Alexander“. Bei George Orwell liest man in „Politics and the English Language“ von 1946: „Gebrauche nie eine Metapher, die schon gebräuchlich ist; nie ein langes Wort, wenn es dazu ein kurzes gibt; nie ein Passiv, wo ein Aktiv passt; nie ein Fachwort, wenn ein alltägliches verfügbar ist.“

„Damit machen sie Vorschläge in einer langen Tradition von Aufräumarbeiten, die sich bemühen, das wissenschaftliche Sprechen auf eine 0-Rhetorik zu reduzieren.“ Martin W. Bauer
Blastland et al. distanzieren sich mit ihrer Liste von Rhetorik, die sie mit Storytelling, Überzeugungsarbeit und Eindringlichkeit identifizieren. Damit machen sie Vorschläge in einer langen Tradition von Aufräumarbeiten, die sich bemühen, das wissenschaftliche Sprechen auf eine 0-Rhetorik zu reduzieren. Als ob man ohne Rhetorik öffentlich kommunizieren könnte. Es scheint dies eine Suche nach dem widerstandsfreien Wort–Supraleiter zu sein, also eines, das praktisch nicht missverstanden werden kann. Das ist ein Gründungsmythos der Wissenschaften. So heißt es seit der Gründung der Royal Society of London im Leitspruch etwa: „Nullius in verba“, auf Worte sei kein Verlass. Auf dem Campus der Tsinghua University in Peking steht ein Monument mit der Lateininschrift (!) „Facta non verba“, Fakten statt Worte.

Die sechste Regel: Benutze die Sprache des Zielpublikums.

Bei diesem Bestreben nach Eindeutigkeit muss man aber aufpassen, dass man nicht dem Gesetz des Werkzeugs verfällt und darüber die Problemlage falsch einschätzt. Das Motto wäre dann: Gib dem Buben einen Hammer und alles wird gehämmert. Die Rahmenbedingungen müssen klar sein und das braucht weitere Regeln, die die fünf von Blastland und seinem Team ergänzen: Tue X nur, wenn YZ.

„Bei diesem Bestreben nach Eindeutigkeit muss man aber aufpassen, dass man nicht dem Gesetz des Werkzeugs verfällt und darüber die Problemlage falsch einschätzt.“ Martin W. Bauer
Solche Regeln können aber nicht alles regeln. Sie setzen einiges voraus, so zum Beispiel wird stillschweigend angenommen, dass etwa die eigene Sprache verwendet wird, zum Beispiel die Englische. Was aber, wenn an einem Ort verschiedene Sprachen geläufig sind? Es braucht also eine sechste Regel: Benutze die Sprache des Zielpublikums.

Die siebte Regel: Eine vertrauenswürdige Person sollte sprechen.

Und was ist eigentlich mit dem Sprecher oder der Sprecherin? Die Regeln schweigen sich darüber aus, obwohl als Ziel hier Vertrauen genannt wird. Ist jeder Sprecher oder jede Sprecherin gleichwertig, um dieses Vertrauen zu vermitteln? Gibt es da nicht ein Privileg für Beamte, Ministerinnen, Nobelpreisträger, Institutssprecherinnen, Vertrauenspersonen, Beraterinnen etc?  Man bräuchte da eine siebte Regel: Eine vertrauenswürdige Person sollte sprechen.

Man fragt sich außerdem: Für welche Sprechsituationen sind die Regeln bestimmt? Das bleibt ungeklärt, mitunter wird da von einer universellen Situation ausgegangen. Die einzig Rahmenbedingung scheint der gute Zweck: Nur Evidenz soll kommuniziert werden, um Vertrauen zu bilden.

Die fünf Regeln lassen auch das Medium außen vor, das man nutzt. Sind also die Regeln die gleichen, wenn die Ärztin mit dem Patienten ein vertrauliches Gespräch führt, wenn der Pressesprecher des Pharmakonzerns vor laufender Kamera über ein neues Vakzin informiert, wenn Professorin XYZ das Coronavirus auf Twitter oder Facebook erläutert oder wenn der Bundespräsident im Fernsehen auftritt?

Die achte Regel: Sichere dir zuerst die Aufmerksamkeit des Publikums.

Was diese fünf Regeln außerdem nicht berücksichtigen, sind Anfang und Ende der Kommunikation und die Aufmerksamkeit der Leser- und Zuhörerschaft. Dazu brauch es dann noch eine Regel: Sichere dir zuerst die Aufmerksamkeit des Publikums. Erst wenn die Aufmerksamkeit garantiert ist, wie mitten in einer Pandemie, kann der vertrauenswürdige Sprecher oder die vertrauenswürdige Sprecherin loslegen und das Gesagte muss sich auch nach dem Medium richten. Erst dann können die fünf Regeln richtig greifen.

„Wie es scheint, sind sich die Autorinnen und Autoren des Nature-Beitrages der Ironie ihres Regelsets durchaus bewusst.“ Martin W. Bauer
Wie es scheint, sind sich die Autorinnen und Autoren des Nature-Beitrages der Ironie ihres Regelsets durchaus bewusst. Am Schluss schreiben sie von der Hoffnung, den Leser oder die Leserin davon überzeugt zu haben, dass die Regeln nützlich sind. Evidenz – die sie ebenfalls ausführlich darlegen – genügt offensichtlich nicht, um ein Regelwerk zu veröffentlichen. Es braucht Rhetorik, nicht zuletzt um gegen Rhetorik anzuschreiben, und es ist auch nicht genug Platz, um alle relevante Evidenz auf drei Seiten in Nature aufzulisten. Die Rhetorik beginnt mit dem Gemeinplatz (doxa), erst dann kann gelten: In der Kürze liegt die Würze.


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