Wie kann Wissen anschlussfähig gemacht werden, ohne dabei auf Komplexität zu verzichten? Der Sammelband „Recontextualized Knowledge“ blickt aus der Perspektive der Rhetorikforschung auf die Wissenschaftskommunikation. Ein Gespräch mit den Herausgebern Markus Gottschling und Olaf Kramer darüber, warum sich Recherche über Zielgruppen lohnt.
„Es geht nicht nur darum: Was ist Fakt?“
Herr Gottschling, Herr Kramer, Sie haben gerade den Sammelband „Recontextualized Knowledge“ herausgegeben. Was bedeutet Rekontextualisierung von Wissen in der Wissenschaftskommunikation?
Olaf Kramer: Es gibt viele Bemühungen, Menschen Wissenschaft nahezubringen. Oft wird dieser Prozess aber als Reduktionsszenario gedacht, also dass Wissen dabei radikal heruntergebrochen werden muss. Das ist eine sehr einseitige Vorstellung, die sich inzwischen durch die Entwicklung hin zu partizipativen Formaten auflöst. Sie weist aber auch auf ein Problem hin, nämlich, dass Forschende beim Kommunizieren oft das Gefühl haben, Komplexität nicht vermitteln zu können. Aus Sicht der Rhetorikforschung wollen wir diesen Vermittlungsprozess darum eher als Rekontextualisierung beschreiben. Das Wissen entsteht im Wissenschaftssystem, in dem bestimmte Regeln gelten. Wenn ich mich nun entscheide, in ein anderes System einzutreten, muss ich mich dort anderen Regeln stellen und meine Informationen an den neuen Kontext anpassen.
Markus Gottschling: Das ist auch der Grund, warum das Thema rhetorisch so spannend ist. Es geht nicht nur darum, zu bilden oder etwas zu lehren, sondern darum, das Wissen anschlussfähig zu machen. Die Absolutheit von Fakten, die in der Wissenschaft ganz entscheidend ist, ist in der öffentlichen Debatte nur ein Faktor unter mehreren. Es geht nicht nur darum: Was ist Fakt? Sondern auch darum, in welchem Kontext man darüber sprechen möchte.
Wie wendet man Rekontextualisierung dann praktisch an?
Kramer: Ein zentrales Verfahren, auf das wir im Buch einen großen Fokus legen, ist die Perspektivenübernahme. Man versetzt sich dabei in die Situation einer Zielgruppe und versucht, aus diesem Blickwinkel über ein Thema nachzudenken. Zunächst muss ich mich dafür fragen: Wen möchte ich mit meinem Inhalt erreichen? Welche Interessen haben diese Personen? Und in welchem Kontext erreiche ich sie? Was sind die kommunikativen Bedingungen, die in diesem Kontext herrschen? Was gibt das Medium vor? Dazu gehören außerdem auch gesellschaftliche und politische Aspekte: Was haben Menschen für Konnotationen, also welche Nebenbedeutungen haben etwa bestimmte Begriffe für eine Gruppe? Und was verbinden diese Leute mit bestimmten wissenschaftlichen Themen? Auf Basis dieser Überlegungen kann man dann anfangen, die eigene Kommunikation anzupassen.
Können Sie ein konkretes Beispiel geben?
Kramer: Nehmen wir einmal den Forschungsbereich zu Künstlicher Intelligenz. Ein Forschungsteam arbeitet an der Optimierung eines Algorithmus und hat vor allem das Ziel, gute Wissenschaft zu betreiben, einen Fortschritt zu erreichen. Wenn sie dann versuchen, Menschen nahezubringen, dass ihre Forschung eine gute Sache ist, stoßen sie möglicherweise auf Vorurteilsstrukturen. Menschen haben zum Beispiel Angst vor Überwachung oder Roboterwesen, die uns beherrschen. Mit diesen Vorurteilen müssen sie dann umgehen. Vorurteile der einen oder anderen Art gibt es gegenüber vielen Forschungsthemen, etwa, weil sie stark wirtschaftlichen Interessen unterliegen oder ethische Implikationen haben. Das muss man bei der Art und Weise berücksichtigen, wie ein Thema dargestellt wird.
Gottschling: Es gibt auch kein Versprechen, dass das gelingt. Wie Sara D. Hodges in ihrem Beitrag „Where Perspective Taking Can and Cannot Take Us“ zeigt, kann die Perspektivübernahme nämlich auch schiefgehen. Etwa, weil man sich nicht auf das Publikum einstellen kann oder sich trotzdem nicht näherkommt. Konkret kann man das auch am Beispiel von Kevin Esvelt sehen, dessen Kommunikation ich im Beitrag „Creating a Rhetorical Situation“ analysiere.
Was ist da genau passiert?
Gibt es noch weitere Risiken bei der Rekontextualisierung?
In welchen Situationen kann man Ihren Sammelband für die Wissenschaftskommunikation zur Hand nehmen?
Kramer, O. & Gottschling, M. (Hrsg.). 2020. Recontextualized Knowledge: Rhetoric – Situation – Science Communication. Berlin: De Gruyter.