Nehmen Forschende den Journalistinnen und Journalisten in der Corona-Pandemie die Arbeit ab? Und wie ließe sich die Qualität der Berichterstattung verbessern? Ein Interview mit dem Wissenschaftsjournalismus-Professor Holger Wormer.
Mehr Einordnung und kritische Nachfragen – was der Journalismus in der Coronakrise besser machen könnte
Herr Wormer, in einem kürzlich erschienenen Fachbeitrag untersuchen Sie die Rolle des Wissenschaftsjournalismus während der Corona-Pandemie – und warnen davor, dass Forschende zunehmend den Journalistinnen und Journalisten die Arbeit abnehmen. Was meinen Sie damit?
Nehmen wir einmal als aktuelles Beispiel den jüngsten Vorstoß von Christian Drosten, die Quarantäne-Zeit bei Verdacht auf eine Infektion zu verkürzen. Das wurde von vielen Medien einfach so weiterverbreitet und sofort kamen auch Reaktionen aus der Politik – und das, obwohl ja zunächst nur ein einzelner Wissenschaftler einen Vorschlag gemacht hatte. Damit keine Missverständnisse aufkommen: Ich schätze Herrn Drosten und seine Arbeit sehr. Aber dass mittlerweile jede seiner Äußerungen, nicht selten ohne weitere Einordnung, mit so großer Reichweite in die Öffentlichkeit transportiert wird, ist aus journalistischer – und übrigens auch aus wissenschaftlicher – Sicht problematisch.
Andererseits wird ja von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler immer wieder gefordert, sich öffentlich zu äußern. Warum stört Sie das in diesem Fall?
Natürlich sollen Forschende sich äußern. Aber es ist eben nicht die Aufgabe von Journalistinnen und Journalisten, das dann nur eins zu eins weiterzuverbreiten. Stattdessen sollten sie das Gesagte in einen Kontext setzen, nachfragen, einordnen. Sonst, und das zeigt auch die Diskussion in den letzten Monaten, droht ein Vertrauensverlust in Teilen der Bevölkerung. Man stützt damit beispielsweise das Narrativ von den „Systemlern“, also die Idee, dass Wissenschaft, Medien und Politik sowieso unter einer Decke stecken. Natürlich ist das Unsinn, aber dieser Eindruck wird gefördert, wenn Redaktionen sich darauf beschränken, Äußerungen aus der Wissenschaft unkommentiert wiederzugeben. Ich finde es ja persönlich auch glaubwürdiger, wenn ein journalistischer Beitrag die Stimmen mehrerer Forscherinnen und Forscher präsentiert und sich die vielleicht auch mal widersprechen.
Hätte Herr Drosten lieber einen privaten Podcast aufnehmen sollen, statt sich mit dem NDR zusammenzutun?
Das würde ich nicht sagen. Der Vorteil der Kooperation mit dem NDR war sicher die von Beginn an größere Beachtung und Reichweite des Projekts. Und die halte ich schon für gerechtfertigt, denn Herr Drosten ist ein ausgewiesener Experte, hat Wichtiges zu sagen und opfert wertvolle Zeit für die Kommunikation. Da war es effizienter, mit so einem Format direkt Aufmerksamkeit zu erzielen, als einen privaten Podcast aufzunehmen, den dann vielleicht kaum jemand gehört hätte. Wir haben schon genug Wissenschaftler-Blogs, -Podcasts und so weiter mit Mikroreichweiten. Aus journalistischer Sicht muss ich aber sagen: So, wie es der NDR gemacht hat, war es mir doch häufig zu affirmativ. Wenn man einem Forscher einfach eine Plattform zur Verfügung stellt, auf der er seine Sicht der Dinge erzählen kann, dann ist das vielleicht ein lehrreiches Format der Wissenschaftskommunikation, es hat aber nichts mit Journalismus zu tun. In so einem medialen Umfeld braucht es meiner Meinung nach mehr Interaktion und kritische Nachfragen. Da muss vielleicht auch mal eine Diskussion entstehen: „Moment mal, da gibt es doch eine Kontroverse?“ Oder: „Eine andere Studie widerspricht aber Ihrer These, dass …“.
Falsche Ausgewogenheit ist in der Tat ein großes Problem im Wissenschaftsjournalismus, das sehen wir etwa seit Jahren in der Klimaberichterstattung. Bei Corona ist die Situation aber eine andere: Es ging in den vergangenen Monaten ja nicht nur darum, was aus virologischer oder epidemiologischer Sicht richtig ist, sondern auch darum, welche Maßnahmen sich sozialverträglich und mit hoher gesellschaftlicher Akzeptanz umsetzen lassen. Um das zu beurteilen, braucht man zusätzlich Expertinnen und Experten anderer Disziplinen. Natürlich sollte man innerhalb einer Disziplin einen eventuellen wissenschaftlichen Konsens abbilden und muss nicht jeder abweichenden Meinung eine Bühne geben. Aber bei einem so multidimensionalen Problem muss ich mich als Journalist fragen: Habe ich die Vielfalt der Disziplinen und Fächer, die zur Lösung benötigt werden, abgebildet?
Wie reiht sich das, was wir in der Coronazeit bislang beobachten konnten, in die generelle Entwicklung des Wissenschaftsjournalismus ein?
Meiner Meinung nach sehen wir nun wie unter einem Brennglas einige Entwicklungen, die vorher schon da waren, in neuer Deutlichkeit: die schwächer werdende Gatekeeping-Funktion von journalistischen Medien etwa oder Finanzierungsschwierigkeiten für wirklich gute Recherche. Jetzt wäre daher ein sinnvoller Zeitpunkt, um sich darüber Gedanken zu machen, was man nach Corona am Mediensystem verändern könnte. Dass dieses System an einigen Stellen verbesserungswürdig ist, heißt natürlich nicht, dass die Idee von Journalismus generell schlecht ist. Wenn ein Fußballverein mal schwach spielt, ist ja auch nicht der Verein automatisch schlecht – und schon gar nicht die ganze Sportart.
Ich habe dazu schon häufiger eine klare Haltung eingenommen: In Artikel 5 des Grundgesetzes wird sowohl die Pressefreiheit garantiert als auch die Freiheit der Wissenschaft. Wenn wir uns nun die Wissenschaft ansehen, dann gibt es da sicher vieles, was man reformieren kann und muss; aber insgesamt sind Forschung und Lehre in Deutschland doch finanziell einigermaßen auskömmlich gesichert. Beim Journalismus sieht das ganz anders aus, obwohl ihm das Grundgesetz eine ebenso wichtige Funktion zuschreibt. Daher ist es aus meiner Sicht legitim zu fragen: Könnte man den Journalismus nicht – bei aller Wahrung der Unabhängigkeit – ähnlich fördern wie die Wissenschaft? Warum nicht analog zur Deutschen Forschungsgemeinschaft eine Deutsche Journalismusgemeinschaft gründen? Ob diese dann auch als Verein, in einem öffentlich-rechtlichen oder einem Stiftungsmodell zu organisieren wäre, sind alles Optionen, die man prüfen muss.
Wie sichert man dabei die Unabhängigkeit des Journalismus?
In anderen Bereichen gibt es dieses Problem ja auch, denken Sie etwa an die staatliche Film-, Kunst- und Kulturförderung. Die findet keiner anstößig, obwohl die Kultur ebenfalls eine Art Beobachtungsfunktion für Politik und Gesellschaft hat. Wir haben also eine erhebliche Kulturförderung und Wissenschaftsförderung aus staatlichen Mitteln, und trotzdem empfinden wir Kunst und Wissenschaft als weitgehend frei. Warum sollte man nicht auch beim Journalismus eine Konstruktion finden, um Fördermittel so zu verwalten, dass die Unabhängigkeit der Berichterstattung garantiert ist? Mir konnte bisher noch niemand schlüssig erklären, warum das in anderen Bereichen funktionieren, aber im Journalismus nicht möglich sein soll.
Nein, der öffentlich-rechtliche Rundfunk ist ein Spezialfall. Die übrige Medienlandschaft hat eine ganz andere Geschichte und ist noch überwiegend privatwirtschaftlich organisiert, deshalb braucht es für sie zumindest zusätzliche Fördermodelle. Aber die Idee des öffentlich-rechtlichen Rundfunks ist auch in dieser Hinsicht natürlich interessant: Man wollte nach dem Zweiten Weltkrieg ja bewusst einen zentralen „Staatsfunk“ vermeiden, sondern eine mediale Vielfalt etablieren. Deshalb wurden die einzelnen Sender in der föderalen Struktur verankert und deshalb kommen deren Mittel auch nicht aus Steuereinnahmen, sondern aus davon getrennten Rundfunkbeiträgen. So wollte man die Abhängigkeit der Sender vom Wohlwollen von Politikerinnen und Politikern weiter reduzieren.
Reden wir über Forschungseinrichtungen und deren Kommunikationsabteilungen. Die, schreiben Sie in Ihrem Beitrag, betrieben zu viel PR für die eigene Organisation und zu wenig Wissenschaftsvermittlung. Können Sie das näher erläutern?
Vieles, was unter dem Stichwort Hochschulkommunikation passiert, ist aus meiner Sicht als Wissenschaftskommunikator im eigentlichen Sinne überflüssig, wenn es nur der Werbung für die eigene Institution dient. Ich verstehe das schon, es geht auch um den Kampf um Drittmittel, Studierende und so weiter. Da ist es natürlich legitim, „Wir-sind-die-Besten-Tassen“ und Luftballons mit Hochschul-Logo zu verkaufen. Man sollte das aber nicht mit einer informierenden und bildenden Wissenschaftskommunikation verwechseln. Meiner Meinung nach müsste man strukturell viel stärker trennen: Wer verbreitet Informationen über die Wissenschaft, die in einer Einrichtung stattfindet, und wer macht Marketing für die Einrichtung selbst? Eine Idee wäre zum Beispiel, eine Abteilung für wissenschaftliche Information nicht beim Rektorat einer Uni anzusiedeln – das ein berechtigtes Interesse daran hat, dass die Institution in der Öffentlichkeit gut dasteht –, sondern beim Senat, der ja auch sonst Aufgaben der Qualitätskontrolle wahrnimmt. Eine solche Arbeitsteilung würde es den Kolleginnen und Kollegen aus der Pressearbeit auch einfacher machen, da sie stets wüssten: Kommuniziere ich jetzt „reine“ Wissenschaft oder geht es primär um Interessen meiner Hochschule? Klar wäre dafür eine umfassende Reform nötig, die ist aber nicht undenkbar.
Was bleibt von Corona in der Wissenschaftskommunikation?
Ich nehme in den Hochschulleitungen in Bezug auf die Kommunikation durchaus einen „Corona-Schock“ wahr: Man hat sich, glaube ich, die vergangenen zehn Jahre ein bisschen in die Tasche gelogen und geglaubt, dank Social Media könnte man jetzt ohne diese lästigen Journalistinnen und Journalisten direkt und einfach das kommunizieren, was man möchte, und damit breite Teile der Öffentlichkeit erreichen. Spätestens jetzt zeigt sich, dass das eine Illusion ist – die Öffentlichkeit braucht guten, kritisch hinterfragenden Wissenschaftsjournalismus zur Orientierung. Und der wiederum kommt letztlich auch der Glaubwürdigkeit von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern gegenüber der Bevölkerung zugute.