Altmetrics sind in aller Munde. Doch was bedeutet der Begriff eigentlich? Und werden alternative Metriken in absehbarer Zeit wichtiger als klassische Verfahren, um den Impact von Forschung zu bestimmen?
Altmetrics: Kommt die „Ökonomie der Aufmerksamkeit“?
Die Studie ist abgeschlossen, die Daten sind ausgewertet, das Ergebnis in einer wissenschaftlichen Fachzeitschrift publiziert. Und nun? Welche Resonanz ruft die Forschungsarbeit hervor, oder anders gefragt: Welchen Impact lässt sie erwarten? Um das zu beurteilen, ziehen Naturwissenschaftlerinnen und -wissenschaftler oft den sogenannten Impact-Faktor der Zeitschrift heran, in dem eine Studie erschienen ist. Diese Maßzahl berücksichtigt unter anderem, wie häufig in diesem Journal erscheinende Artikel üblicherweise von Kolleginnen und Kollegen zitiert werden. Auch direkte Zitatzählungen, wie oft ein Artikel in anderen Fachpublikationen erwähnt wird, sind verbreitet. Um den Gesamt-Output eines Wissenschaftlers oder einer Wissenschaftlerin zu bewerten, kann man zudem analysieren, wie viele Arbeiten er oder sie insgesamt veröffentlicht hat und wie häufig diese zitiert wurden.
Forschende diskutieren aber derzeit intensiv darüber, ob diese klassischen, „bibliometrischen“ Indikatoren im Internetzeitalter noch den wahren Impact von Forschungsarbeiten widerspiegeln. Ein Kritikpunkt lautet, dass sie die Kommunikation über Forschung innerhalb der Wissenschaftscommunity und darüber hinaus in der Gesellschaft nicht abbilden. Im Verlauf dieser Diskussion wurde der Begriff „Altmetrics“ als Sammelbegriff für alternative Indikatoren eingeführt, welche insbesondere die webbasierte Kommunikation außerhalb des traditionellen Peer-Review-Verfahrens berücksichtigen. Durch Altmetrics wird sichtbar, wie oft in der überregionalen Presse, in sozialen Netzwerken, Strategie- und Richtlinienpapieren sowie weiteren Quellen im Internet wissenschaftliche Publikationen zitiert, diskutiert oder weiterverbreitet werden, kurz: Wer sich innerhalb sowie außerhalb des Wissenschaftssystems mit Fachpublikationen beschäftigt.1
Altmetrics-Forschung
Seit der Einführung des Begriffs Altmetrics durch Jason Priem und Kollegen2 kann die Altmetrics-Community auf rund acht Jahre Forschung zu diesem Thema zurückblicken. Einerseits haben Forschende geschlussfolgert, dass „die Sichtbarkeit und Präsenz von Altmetrics durchaus beeindruckend“3 sind: Sie werden von vielen Wissenschaftsverlagen als Marketingtool genutzt, es gibt bereits einige hundert Veröffentlichungen zu diesem Thema, ein eigenes Journal und mittlerweile sogar eine eigene internationale Altmetrics-Konferenz. Andererseits fehlt bis dato eine einheitliche Definition und damit auch ein Konsens darüber, was man mit Altmetrics genau misst und welche Aussagen daraus gezogen werden können.4 5 6
Einfach zu erkennen sind die Altmetrics beispielsweise am „Altmetric-Donut“. Er wird von vielen Wissenschaftsverlagen und ‑einrichtungen als Marketingtool genutzt, unter anderem auf den Webseiten der Zeitschriften Nature und Science sowie in den Repositorien der Universitäten Cambridge und Zürich. In der Mitte des Kringels steht der sogenannte Attention-Score. Er basiert auf einem Algorithmus, der gewichtet aufaddiert, wie häufig der Artikel in den diversen Quellen genannt wird – je höher die Zahl, desto größere Aufmerksamkeit wird der Arbeit also zuteil. Die einzelnen Farben machen dabei sichtbar, welche Arten von Quellen sich auf den Artikel beziehen, etwa Tweets, Blog-Artikel oder Wikipedia-Einträge. Je bunter der Donut ist, desto diverser sind die webbasierten Formate, in denen eine Forschungsarbeit besprochen wird.
Der Attention-Score wird in der Wissenschaft eher kritisch betrachtet;7 eine einfache Aufsummierung von Counts zu einer einzigen Metrik als „problematisch“ angesehen.8 9 Der Kern der Kritik bezieht sich darauf, dass der Attention-Score in einer Gesamtbetrachtung nicht den Impact von wissenschaftlicher Leistung abbildet. Sondern er eignet sich lediglich dafür, diejenigen Publikationen herauszufiltern, die ein hohes Maß an Wahrnehmung in verschiedenen (Online-)Medien generieren.10 11
Spannungsverhältnis zwischen Bibliometrie und Altmetrics
Zwischen Altmetrics und Bibliometrie, also der eingangs beschriebenen klassischen Bemessung des Impacts, besteht ein Spannungsverhältnis. Und das, obwohl Altmetrics aus der bibliometrischen Community hervorgegangen sind: Beide Disziplinen sollen den Zweck erfüllen, ein Bild der wissenschaftlichen Relevanz einer Arbeit zu vermitteln, wenn auch auf Basis unterschiedlicher Grundlagen. Fast schon reflexartig werden daher beide oft in ein Verhältnis zueinander gesetzt, miteinander verglichen oder als eine Entweder-oder-Auswahl betrachtet. Bornmann und Haunschild haben in einer Studie untersucht,12 inwiefern das „Leiden Manifesto for Research Metrics“13, das für Metriken in der Wissenschaftsevaluation verfasst wurde, auch auf Altmetrics angewandt werden kann. Die Autoren kommen zu dem Ergebnis, dass es bis dato keine Aggregation von Daten oberhalb der Einzelartikelebene geben kann, ebenso wie normalisierte Indikatoren, die ein Ergebnis mit dem durchschnittlichen Wert des jeweiligen Fachgebiets in Beziehung setzen würden. Zudem seien die Daten oft weder offen zugänglich noch transparent, und die Autoren wissenschaftlicher Veröffentlichungen könnten ihre Zahlen manipulieren. So gesehen ist man noch weit davon entfernt, Altmetrics ähnlich wie klassische bibliometrische Information nutzen zu können.
Der Wortbestandteil „metrics“ in Altmetrics ruft auch häufig falsche Erwartungen hervor und zwar im Sinne von „Messungen“ oder „Maßzahlen“, die hiermit generiert werden könnten. Dies ist aber auf Altmetrics nicht zutreffend, vielmehr werden absolute Häufigkeiten ermittelt und im Altmetrics-Donut auf Einzelartikelebene zueinander in Bezug gesetzt. Dies kann eine neue Perspektive auf die Kommunikation von und über Wissenschaft in Social Media abbilden. Die Expert Group on Altmetrics, die 2017 einen Report im Auftrag der Europäischen Kommission erstellt hatte, plädiert ebenfalls dafür, dass Altmetrics und Bibliometrie gemeinsam „komplementäre Ansätze zur Evaluation“ bilden.14
Altmetrics haben den Vorteil, dass die Indikatoren wie zum Beispiel Tweets ein breiteres Publikum erreichen, das nicht zwingend dem Wissenschaftssystem zuzuordnen ist. Zudem können Informationen deutlich schneller erhoben und verarbeitet werden als in der klassischen Bibliometrie. Dass Altmetrics im Wissenschaftssystem aber (noch) eine eher untergeordnete Rolle spielen, ist allein daraus ersichtlich, dass sich klassische Fachpublikationen nach wie vor im Kern des wissenschaftlichen Belohnungssystems befinden, da sie etwa für Berufungen auf Professuren relevant sind. Kommunikation via Social Media hingegen hat keine große Bedeutung für die Karriere von Forschenden – allein dieser Unterschied macht es Altmetrics deutlich schwerer, sich zu etablieren.
Aufmerksamkeit als Währung in der Wissenschaft
Es kann vorausgesetzt werden, dass Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler nicht nur wegen des Erkenntnisfortschritts publizieren, sondern auch, um ihre Reputation zu steigern: Dazu müssen sie nicht unbedingt viel veröffentlichen, aber damit eine möglichst hohe Wahrnehmung erzielen. Für Forschende ist es Ausdruck der Anerkennung, wenn ihre Arbeit von Kolleginnen und Kollegen wahrgenommen, als relevant eingeschätzt und zitiert wird. Dies gilt sowohl für den klassischen Publikationsprozess als auch für Veröffentlichungen im Web. Um mit Georg Franck zu sprechen: In der Mediengesellschaft genügt es nicht mehr, reich zu sein, man muss auch prominent sein.15
Franck hat diese Entwicklung als „Ökonomie der Aufmerksamkeit“ bezeichnet. Sein Ansatz ist zwar nicht identisch auf die Wissenschaft übertragbar, dennoch versuchen auch viele Forschende, ein bestimmtes Maß an Bekanntheit oder Prominenz in der Fachcommunity zu erreichen, um die eigene Position zu stärken. Man kann dies auch mit dem Begriff „Sichtbarkeit“ umschreiben: Wer etwas zu sagen haben möchte, muss sich bei anderen Gehör verschaffen. In sozialen Medien geht man über die reine Fachcommunity und die Kommunikation im Wissenschaftssystem hinaus und spricht ein breiteres Publikum an. Je stärker Mediengesellschaft und Wissenschaft zusammenrücken, beispielsweise durch den Einsatz sozialer Medien durch Forschende, desto stärker überträgt sich die von Franck beschriebene Maxime auch auf die Wissenschaft.
Machbarkeitsstudie Altmetrics
Inwiefern und in welcher Weise ist also trotz der Kritik eine Anwendung von Altmetrics in Wissenschaftspolitik und -management sinnvoll? Diese Frage steht im Zentrum einer am Forschungszentrum Jülich erstellten Machbarkeitsstudie zu Altmetrics.16 Wie werden Altmetrics bereits eingesetzt und welche Schlüsse lassen sie zu? Unsere Studie skizziert hierzu vier unterschiedliche Anwendungsfelder und erläutert deren jeweiligen Einsatz von Altmetrics:
1. Wissenschaftsevaluation, Leistungsbewertung und Messung von sozialem Impact. Auf diesem sensiblen Gebiet ist Vorsicht mit Blick auf die Anwendung von Altmetrics geboten, denn hier stellt Validität eine essenzielle Komponente dar. Im wissenschaftlichen Diskurs muss ein tiefergehendes Verständnis für die Heterogenität und die Aussagekraft der Daten (wie Facebook-Likes, Tweets, Posts, Newsbeiträge etc.) sowie für sinnvolle Vergleichsmaßstäbe weiter wachsen. Daher werden Altmetrics auch in naher Zukunft eher eine ergänzende Komponente als ein eigenständiger Indikator für die Leistungsbewertung sein. Hinzu kommt, dass einige Forschungsthemen stärker im gesellschaftlichen Fokus stehen als andere, ohne zwingend einen größeren sozialen Impact aufzuweisen. So beschreibt beispielsweise die Nachrichtenwert-Theorie, warum manche Themen ziemlich sicher und andere eher nicht Gegenstand journalistischer Berichterstattung in Massenmedien werden. Ausschlaggebende Faktoren sind zum Beispiel Überraschung, Sensation, Nutzen oder Prominenz.17
2. Öffentlichkeitsarbeit, Sichtbarkeit und Bewerbung von Aktivitäten. Ein Teil der Kommunikation über Wissenschaft und deren Wahrnehmung in der Öffentlichkeit wird durch Altmetrics abgebildet. Auf jeden Fall steigen die Social-Media-Aktivitäten zu wissenschaftlichen Themen, sowohl gemessen an der Häufigkeit der Beiträge als auch der Anzahl von Akteuren. Damit erhöhen sich die Bedeutung von sozialen Netzwerken und ihr Potenzial, um darin proaktiv auf Forschung aufmerksam zu machen oder diese zu bewerben.
Institutionelle Bestrebungen beispielsweise von Universitäten oder der Europäischen Kommission sind hier zu beobachten, die gezielt eigene Veröffentlichungen und Aktivitäten betreiben – ganz im Sinne einer Öffnung des Wissenschaftssystems, eines breiten Wissenstransfers und der Adressierung gesellschaftlicher Herausforderungen.
3. Wissenschaft. Für die Anwendung von Altmetrics in der Wissenschaft gilt ähnliches wie im vorherigen Abschnitt: Für Forschende ist die Wahrnehmung ihrer Veröffentlichungen unerlässlich. Das Renommee, das durch die Verwendung ihres wissenschaftlichen Outputs – Ideen, Aussagen, Berechnungen und Ergebnissen – durch andere entsteht, ist essenzieller Bestandteil des Systems Wissenschaft und bringt ihnen einen nachhaltigen Nutzen.
4. Bibliothekswesen. In den Bibliotheken wissenschaftlicher Einrichtungen finden sich häufig die Personen, die sich am besten mit Publikationsdaten und Bibliometrie auskennen. Zu ihren Aufgaben zählen etwa die Datenbereinigung, die Zusammenstellung von Publikationsprofilen und die Datenerhebung im Rahmen von Evaluationen. Bibliothekare sind somit Spezialisten für den Umgang mit Daten, vor allem im Zusammenhang mit Publikationen, Nutzerzahlen und Bestandsmanagement. Altmetrics stellen genau an dieser Stelle ein verbindendes Element dar, weil sie etwa die Nutzung von Publikationen in den sozialen Medien beleuchten. Somit ist es naheliegend, dass Bibliotheken meistens direkt involviert sind, wenn das Thema Altmetrics an einer Einrichtung aufgegriffen wird.18
Fazit
Altmetrics befinden sich noch in der Entwicklung und der Erprobung. Sie sind derzeit entfernt davon, einen regelmäßigen Beitrag zu quantitativen Wissenschaftsevaluationen zu leisten. Aber: Altmetrics repräsentieren vor allem Kommunikation, und diese nimmt in der Wissenschaft einen sehr hohen Stellenwert ein – zunehmend auch über Fachzeitschriften hinaus. Hier anzusetzen und über Anreize nachzudenken, wie neue Formen der Kommunikation gewinnbringend für die Wissenschaft genutzt werden können, ist ein zukunftsweisender Weg. Sollten die Anreize dafür, Forschung etwa mit Hilfe von Social Media in die Gesellschaft zu tragen, im Wissenschaftssystem erhöht werden, dürfte auch die Bedeutung von Altmetrics weiter steigen.
Gastbeiträge spiegeln nicht zwangsläufig die Meinung unserer Redaktion wider.
Mehr zum „Altmetric Attention Score“ auf Wissenschaftskommunikation.de: https://www.wissenschaftskommunikation.de/altmetric-ein-werkzeug-um-den-impact-einer-wissenschaftlichen-arbeit-in-onlinemedien-zu-messen-21601/