Alexander Gerst twittert, spricht und bloggt über Forschung und Leben auf der Raumstation ISS. Wie das Kommunikationsteam auf der Erde und der Astronaut gemeinsam Geschichten erzählen und warum bei Gerst die Wissenschaft im Fokus steht, erklärt Marco Trovatello, Pressesprecher der Europäischen Weltraumorganisation ESA, im Interview
Wissenschaftskommunikation aus dem All
Herr Trovatello, Sie sind bei der Europäischen Weltraumorganisation ESA für die Kommunikationskampagnen rund um Weltraumexploration und insbesondere astronautische Raumfahrt zuständig. Wie starten Sie eine neue Kampagne?
Etwa ein Jahr bevor die Mission startet, beginnen wir mit der Erstellung eines Kommunikationsplans. Der ist dann erst mal relativ generisch, aber er definiert den Weg. Der Plan wird auf die Astronautin oder den Astronauten zugeschnitten. Wir hatten beispielsweise vor einiger Zeit mit Thomas Pesquet einen Astronauten, der neben Wissenschaft und Betrieb der Internationalen Raumstation ISS ein starkes Interesse hat an der Vermittlung von dem, was wir „Human Interest“-Themen nennen – also: Wie lebt man im All? Wie schläft man? Das ist toll, denn es erreicht viele Menschen und ist wichtig im Rahmen von Langzeit-Exploration, das heißt zur Vorbereitung langandauernder Missionen.
Mit Alexander Gerst haben wir die Chance gesehen, die Wissenschaft noch stärker in den Fokus zu rücken, und dies betrifft alle Elemente der PR-Kampagne. Von Social Media über klassische Medienarbeit wie Pressekonferenzen bis hin zu Medienkooperationen, beispielsweise mit der „Sendung mit der Maus“, ARD oder ZDF. Auch hier wird meines Erachtens aktuell viel mehr Wissenschaft kommuniziert als zuvor.
Eignet sich Alexander Gerst besonders für eine Kampagne mit diesem Fokus?
Ja, weil er als studierter und promovierter Geophysiker selbst wissenschaftlich gearbeitet und hier ein besonderes Interesse hat. Unsere Astronautinnen und Astronauten sind gemeinsam mit ESA-Generaldirektor Jan Wörner unsere wichtigsten Botschafter und Kommunikatoren. Von daher richten wir die Kampagnen zum Teil nach ihren Vorlieben und Interessen aus. Beispielsweise war Samantha Cristoforettis Kampagne bewusst sehr vielfältig angelegt: Durch ihre Inter- und Multikulturalität – sie spricht mindestens fünf Sprachen fließend, hat in verschiedensten Ländern diverse Abschlüsse gemacht – lag das auf der Hand. Sie selbst in der Hauptrolle sowie meine Vorgängerinnen und Vorgänger am Boden haben hier einen tollen PR-Job gemacht, dem eine gute Mischung aus Wissenschaft, Engineering und „Human Interest“-Themen zugrunde lag.
Alexander Gerst wiederum hat das bereits genannte natürliche Interesse an genuiner Wissenschaftskommunikation und sieht sich selbst auch in dieser Rolle.
Trotzdem sieht man aber auch immer noch Posts, die eher das Leben im All zeigen. Wie genau ist da die Mischung?
Klar, auf die Berichterstattung über den „Alltag im All“ können und wollen wir nicht verzichten. Bilder von Alexander Gerst, der sich nach einem langen Arbeitstag ein WM-Spiel ansieht, kombiniert mit einem Tweet, in dem er die deutsche Mannschaft ermuntert, sind Momente, die wir auf der Erde und er im All miteinander teilen können. Mithilfe von Aufnahmen der Erde, die entweder einfach nur schön sind oder manchmal auch alarmierend (Dürre, Rodungen, Hurrikans) können wir „Terranauten“ ansatzweise sogar am sogenannten Overview-Effekt teilhaben.
Wir haben uns mindestens drei Science-Postings pro Woche als Ziel gesetzt und das funktioniert erstaunlich gut – das kann ein einfacher, allgemein verständlicher Text mit einem oder mehreren Bildern auf Twitter, Instagram oder Facebook sein, aber auch ein aufwendig produziertes Video zu einem Experiment.
Vor allem in den Sozialen Medien gibt es hierzu immer wieder Rückmeldungen von Leuten, die sagen, dass sie das sehr interessant und spannend finden und loben, dass wir nicht nur schöne Bilder der Erde zeigen, sondern auch die wissenschaftliche Arbeit an Bord, und zwar auf allgemein verständliche Art und Weise.
Gibt es auch inhaltliche Gründe für die Entwicklung hin zu mehr Wissenschaftskommunikation?
Natürlich gibt es die. Zum einen befinden wir uns momentan in einer entscheidenden Phase, was die Raumfahrt angeht. Nach rund 20 Jahren Forschung im Rahmen der ISS – die sicherlich noch über das bisher vereinbarte Datum 2024/2025 hinaus betrieben wird – haben derzeit dieselben internationalen Partner der ISS – USA (NASA), Europa (ESA), Russland (Roscosmos) sowie Japan (JAXA) und Kanada (CSA) – ein neues Ziel ins Auge gefasst: Es heißt Lunar Orbital Platform-Gateway und meint eine Station im lunaren Orbit. Von hier aus könnte sowohl die Vision des Moon Village des ESA-Generaldirektors Jan Wörner Wirklichkeit werden, als auch das Vorhaben, den Mond in Zukunft als Sprungbrett zum Mars und zu noch ferneren Zielen zu nutzen. Dafür Bedarf es aber noch einer Menge Forschung und Entwicklung, die von uns sogenannte „Space Benefits“ hat. So nennen wir Experimente und Technologieerprobung, die der Weltraumexploration selbst nützt.
Wir unterteilen die Ergebnisse jedes der fast 70 europäischen Experimente, die Alexander Gerst im Rahmen seiner Mission „Horizons“ durchführt – insgesamt ist er am Bord der ISS an über 300 beteiligt – in sogenannte „Earth & Space Benefits“. Jedes der Experimente hat das Ziel, konkrete Erkenntnisse zu liefern, die sowohl auf der Erde als auch im All konkreten Nutzen bringen. Nehmen wir beispielsweise Myotones, das in Zusammenarbeit mit der Berliner Charité durchgeführt wird: Hier werden Tonus, Steifigkeit und Elastizität von Muskeln überprüft – dies wird sowohl zukünftigen Raumfahrern auf Langzeitmission als auch Menschen, die auf der Erde „schwere“ Arbeiten durchführen, helfen.
Wie wichtig ist es für Sie, eine Geschichte zu erzählen?
Sehr wichtig, allerdings ist das im Rahmen der Astronautischen Exploration aufwendig und aufgrund des Zeitmangels der Astronautin oder des Astronauten nicht leicht. Immerhin gibt es im von unserem Team – bezeichnenderweise sind wir das „Joint Communication Office for Science and Exploration“ – betriebenen Blog zur Mission eine Reihe von Beiträgen, die von Alexander Gerst in der Ich-Perspektive geschrieben sind und die seine persönliche Geschichte mit der Weltraumexploration verbinden.
Als ESA waren wir aber vor allem im Rahmen der Rosetta-Mission gut im Geschichten erzählen. Das ist aufgrund der brillanten Kommunikationskampagne, aber auch aufgrund der Einzigartigkeit der Mission ein Paradebeispiel, das sich aber in dieser Größenordnung wohl nicht so schnell wiederholen lässt.
Bei astronautischen Missionen bestand bisher gelegentlich das Problem, dass sich die Schlüsselbotschaften wiederholen. Mit der Perspektive auf eine neue lunare Orbitalstation, dem Lunar Orbital Platform-Gateway, ändert sich das gerade allerdings: Wir fokussieren nun neben der Wissenschaft in unserer Kommunikation die Tatsache, dass die internationale Rückkehr zum Mond uns möglicherweise vom lunaren Orbit zur Mondoberfläche und von dort weiter hinaus ins Sonnensystem führen wird, das heißt zum Mars und eventuell noch weiter.
Wir erzählen aber auch kleine Geschichten von der Länge eines Blogposts oder gar nur ein paar Tweets, die dann bestimmte Aspekte einer Mission kommunizieren oder Dinge wieder aufgreifen. Diese kleinen Geschichten haben aber auch eine positive Wirkung. Es geht immer darum, die Leute reinzuziehen und zu begeistern, dazu eignen sich auch kleinen Anekdoten oder gar Aphorismen.
Sie sprachen von positivem Feedback, gibt es auch Dinge, die noch nicht so gut funktionieren?
Im Großen und Ganzen läuft die Kampagne sehr gut. Die wissenschaftlichen Inhalte werden gut angenommen – sowohl auf Twitter, wo es aufgrund der Natur der Nutzerinnen und Nutzer zu erwarten war, als auch auf Instagram, was eher überraschend ist. Im Bereich der Übersetzungen gibt es Luft nach oben. Auf den Social-Media-Plattformen funktioniert es mit Deutsch und Englisch ganz gut, aber im Blog beispielsweise kriegen wir noch zu wenige der Inhalte schnell genug aus dem Englischen ins Deutsche übersetzt. Hier müssen wir uns verbessern, denn schließlich ist jede und jeder unserer europäischen Astronautinnen und Astronauten, nun ja, in ihrem oder seinem Land besonders bekannt. Bezüglich der Horizons-Mission würden wir idealerweise alle Inhalte auf allen Plattformen zeitgleich in Englisch und Deutsch veröffentlichen und ihn im Verhältnis 50/50 in deutschen bzw. Deutschsprachigen und internationalen Medien sehen.
Wie viele der Posts stammen denn von Alexander Gerst selbst und wie wird er redaktionell unterstützt?
Nehmen wir den ESA Horizons-Blog als Beispiel ist es 50/50. Der Geophysiker Alexander Gerst kommt beispielsweise in vielen Posts zum Vorschein, in denen es um Erd- oder Planetengeologie geht. Unser Team wiederum verfasst zahlreiche Artikel sowohl zu wissenschaftlichen Experimenten als auch bezüglich operationeller Aktivitäten wie Außenbordeinsätzen, Raumflugbetrieb und vielem mehr. Diese Inhalte erscheinen sowohl im Missionsblog als auch auf dem ESA-Portal oder den verschiedenen Social-Media-Plattformen. Alexander Gerst versorgt uns – und natürlich die Medien und die Öffentlichkeit, an die wir das alles auch in höchster Qualität weitergeben – mit vielen Materialien. Das alles geschieht in enger Abstimmung mit ihm. Wir sind kontinuierlich in Kontakt. Das ist insbesondere bei aktuellen Ereignissen im Rahmen der Mission wichtig.
Wie würden Sie die Art der Kommunikation bezeichnen, die sie betreiben?
Sie ist natürlich sehr visuell, das liegt nahe. Schon seit einiger Zeit in „Social, Mobile, Video“ eines unserer Grundprinzipien – und wenn ich mir beispielsweise die Statistiken unserer Blogplattform ansehe, die einen Großteil mobiler Nutzer aufweist, weiß ich, das wir hier richtig liegen.
Wir sind da inzwischen fast ein bisschen gnadenlos geworden: Beispielsweise plane ich bewusst bei jeder Pressekonferenz vor gepoolten oder Einzelinterviews einen längeren Teil mit Fokus auf die oben genannten Themenkomplexe ein. Da müssen die Journalistinnen und Journalisten erst mal durch.
Gibt es in der aktuellen Kampagne ein Highlight für Sie?
Oh ja, da gibt es viele. Eines meiner Lieblingsprojekte war die Veranstaltung zum Start der Horizons-Mission in Kooperation mit den Berliner Planetarien beziehungsweise der Gemeinschaft der deutschsprachigen Planetarien. Das war ein perfektes Zusammenspiel von Weltraumwissenschaften und Exploration. Oder aber die Kooperation mit Kraftwerk – ebenso ein perfektes Zusammenspiel, in diesem Fall von Kunst, Kultur und Wissenschaftskommunikation.